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Die zweite Gewalt

  • Autorenbild: Silvia Meck
    Silvia Meck
  • 6. Okt.
  • 7 Min. Lesezeit
Das Klostertor in Kloster auf Hiddensee, drei Backstein-Torbögen, Schwarz-Weiß-Fotografie.
Das sogenannte „Klostertor” in Kloster, Hiddensee

Es gibt eine Form von Gewalt, über die kaum jemand spricht. Sie hinterlässt keine sichtbaren Spuren, keine blauen Flecken, kein Röntgenbild, das man in eine Akte heften könnte – jene feinen, leisen Verletzungen, die auch in meinem Artikel "Stille Kriege des Alltags" beschrieben sind . Ihre Wucht trifft dennoch mit derselben Härte wie der ursprüngliche Schmerz. Sie entsteht dort, wo Menschen, Institutionen oder ganze Gesellschaften auf die Aufarbeitung von erlebtem Unrecht reagieren – mit Misstrauen, Herabwürdigung, Gerede. Sie geschieht in der Art, wie man spricht, wie man zuhört oder eben nicht zuhört, wie man urteilt, ohne zu wissen.


Was im digitalen Raum, oder im direkten sozialen Umfeld beginnt – mit einem Kommentar, einem Gerücht, einer Verdrehung – kann im wirklichen Leben weiterwirken. In manchen Fällen zeigt sich die zweite Gewalt bereits hier: in der öffentlichen Bloßstellung, im Rufmord, in der digitalen Verzerrung der Wahrheit. Im Artikel "Warum Unschuld im digitalen Zeitalter kaum noch zählt" habe ich beschrieben, wie solche Dynamiken entstehen und welche Folgen es für die oft unsichtbaren Betroffenen von Rufmord haben kann. Es ging um diesen ersten Schlag – den Moment, in dem ein Mensch öffentlich zu Fall gebracht wird. Doch das, was danach geschieht, ist oft noch zerstörerischer: die zweite Gewalt, die aus der Art entsteht, wie über das Erlebte gesprochen, geurteilt oder geschwiegen wird.


Gewalt geschieht selten in einer einzelnen Bewegung. Sie wiederholt sich, wandelt sich, verschiebt sich. Manche erleben ein einzelnes, einschneidendes Trauma – und tragen dessen Folgen still weiter. Andere erfahren nach der ersten Erschütterung neue Formen von Verletzung: Misstrauen, soziale Ausgrenzung, institutionelle Kälte. In manchen Fällen entsteht daraus eine Retraumatisierung, weil das Erlebte erneut ausgelöst oder bestätigt wird. In anderen entsteht ein neues Trauma – unabhängig von der ursprünglichen Tat, aber aus denselben Strukturen heraus: durch Zuschreibung, Entzug von Glaubwürdigkeit, durch Rufmord. Jedes dieser Erlebnisse kann für sich eine tiefe Zäsur sein. Gemeinsam bilden sie ein Kontinuum, in dem sich die erste und die zweite Gewalt gegenseitig verstärken oder bedingen.


Wer Gewalt überlebt hat, trägt oft jahrelang das Unsichtbare mit sich. Der Versuch, Worte für das Erlebte zu finden, ist ein zarter Akt der Selbstwiedergewinnung. Gerade in diesem Moment, in dem Wahrheit Gestalt annimmt, beginnen neue Verletzungen. Aussagen werden verdreht, Erfahrungen in Frage gestellt, Diagnosen ohne Grundlage kolportiert. Menschen werden etikettiert – als „übertrieben“, „instabil“, „psychisch krank“. Solche Bezeichnungen wirken wie kalte Etiketten auf offenen Wunden. In "Mein Name gehört mir" ging es darum, wie Worte Besitz ergreifen können; hier zeigt sich, was geschieht, wenn Sprache selbst zur Waffe wird. Was als Aufarbeitung begann, verwandelt sich so in einen weiteren Schauplatz der Ohnmacht.


Diese Form der Gewalt wirkt schleichend. Ihre Orte sind Gespräche, Flure, behördliche Schreiben; in Ermittlungsakten reduziert sich menschliche Erfahrung allzu oft auf Stichworte. Routinen in Institutionen führen dazu, dass Zuschreibungen übernommen werden, ohne deren Herkunft geprüft zu haben. Einmal in eine Schublade gelegt, findet man schwer wieder hinaus. Diejenigen, die so handeln, bemerken häufig nicht, dass sie selbst Teil einer neuen Verletzung geworden sind. Sie werden zu Tätern.


Sekundäre Traumatisierung ist keine Theorie, sondern gelebte Erfahrung vieler. Vertrauen zerbricht dort, wo Schutz versprochen wurde: in Vernehmungsräumen, bei Polizeikontakten, in Akten, die über Menschen entscheiden. Hilfeersuchen enden nicht selten in Skepsis, Abwertung oder offener Einschüchterung; in mehreren Fällen wurden Betroffene durch das Verhalten von Ermittlungsbehörden so massiv belastet, dass Aussagen eingeschüchtert oder zum Schweigen gebracht wurden. Neutrale Ermittlungen werden hinfällig, sobald Justiz und Ermittlungsbehörden fremde Deutungen übernehmen, ohne deren Herkunft oder Motiv zu prüfen. Was ich in "Deutungskämpfe" beschrieben habe, zeigt sich hier in anderer Form: Die Macht über die Geschichte entscheidet, wem geglaubt wird - und wem nicht. Objektivität kann so ersetzt werden durch vorgefertigte Meinungen, unreflektierte Zuschreibungen und psychologische Etiketten; selbst sachlich belegte Aspekte geraten dadurch in Zweifel. In solchen Konstellationen entsteht die paradoxe Lage, dass jene, die eigentlich Schutz gewährleisten sollen, durch ihr Vorgehen die Glaubwürdigkeit der Betroffenen systematisch untergraben. Fehlende oder instrumentalisierte Gutachten verschärfen dieses Versagen. Wenn medizinische oder psychologische Gutachten erst gar nicht erstellt werden, bleibt Aufklärung aus. Fallen Gutachten dennoch an, landen sie häufig bei denen, die sie beauftragen; Auftraggeber legen damit oft die Richtung der Deutung fest; Erwartungen werden erfüllt, Wahrheiten nicht mehr gesucht. Entscheidend wird zu oft die Frage, wer bezahlt. Die Hand, die man füttert, beißt man selten.


Manche Fälle erhalten durch eine zusätzliche, gesellschaftliche Dynamik eine weitere Schicht der Gewalt. Einzelne Personen setzen Gerüchte, Deutungen oder Verdächtigungen in die Welt; bei manchen lässt sich ein direkter Zusammenhang mit eigener Täterschaft beobachten, in anderen finden Formen von Gaslighting oder Coercive Control Anwendung, die nichts mit einer ursprünglichen Traumatisierung zu tun haben, aber dennoch neue Verletzungen erzeugen. Manche scheuen sich nicht davor, aus persönlicher Rache oder niederen Beweggründen Gesetze zu missbrauchen, die zu Recht zum Schutz von Opfern geschaffen wurden – im schlimmsten Fall in Kombination. Das kann Menschen tatsächlich zerstören.


Wieder andere treiben Gerüchte aus persönlicher Abneigung; sie sehen in einer Person einen Dorn im Auge und beginnen, sie zu diffamieren. Häufig ist dieses Verhalten auch in politischen Kreisen oder von Seiten des Journalismus zu beobachten, wo vermeintliche Deutungshoheit über Menschen und Themen in öffentlichen Diskursen zur Waffe werden kann. Die Mehrheit der Weitertragenden handelt jedoch aus Unkenntnis, Bequemlichkeit oder dem Bedürfnis, das Verstörende zu ordnen; oft verbleibt nur Halbwissen – ohne Wissen, ohne Nähe, ohne Achtung. Fragmente werden aufgegriffen, eigene Annahmen angefügt; „Stille Post“ erzeugt daraus ein zunehmend verzerrtes Bild. Gelangt eine derartige Verzerrung ungefiltert in Ermittlungsakten oder Entscheidungsprozesse, kann daraus nicht nur eine Fortsetzung des Alten entstehen, sondern eine neue Traumatisierung. In manchen Fällen wird eine alte Wunde aufgerissen – eine Re-Traumatisierung. In anderen Fällen entsteht eine gänzlich neue Verletzung, weil Menschen erneut entwürdigt, entmachtet und in Frage gestellt werden – diesmal nicht durch die ursprüngliche Tat, sondern durch die Logiken, die ihre Erzählung verarbeiten.


Die zweite Gewalt entfaltet ihre zerstörerische Kraft leise. Sie wirkt im Nebensatz, im Zweifelston, in der Art, wie man auf einen Namen reagiert. Gesellschaftliche Verantwortung verwandelt sich allzu leicht in eine Kette des Wegsehens und Weiterreichens. Betroffene müssen nicht allein das ursprüngliche Unrecht bewältigen; zusätzlich lasten Misstrauen, Sprachverlust und Deutungsentzug auf ihnen. Der Kampf um Deutungshoheit wird so zum Kampf um Würde.


Aufarbeitung verlangt Schutzräume, keine öffentlichen Tribunale. Zuhören ist nötig, bevor analysiert wird; Begleitung darf nicht in Kontrolle umschlagen. Ermittlungsbehörden haben die Pflicht, neutral zu ermitteln, nicht einseitig. Ihre Aufgabe ist es, beide Seiten zu hören und die Ergebnisse sachlich weiterzugeben. Die Staatsanwaltschaft wiederum trägt die Verantwortung, auf Grundlage dieser Fakten zu prüfen, ob eine Anklage zu erheben ist oder nicht. Sobald eigene Interpretationen oder Dramatisierungen – sei es durch die Ermittlungsbehörde oder durch die Staatsanwaltschaft – das Geschehen verzerren, geht die Objektivität verloren. Ermittlungspraktiken brauchen Traumakompetenz, Gutachten müssen unabhängig und transparent sein, und Institutionen müssen prüfen, bevor sie urteilen. Medien, politische Akteure und private Netzwerke sind aufgefordert, Zurückhaltung gegenüber Gerüchten zu üben und die Herkunft von Behauptungen kritisch zu hinterfragen. Sprache ist wirkmächtig; jede Frage, jeder Tonfall, jeder Vermerk hat Folgen.


Verstehen heißt hier, die unsichtbaren Formen von Gewalt sichtbar zu machen. Es erfordert Mut, die eigene Rolle in diesem Gefüge zu betrachten – ohne Abwehr und ohne Rechtfertigung. Eine resiliente Gesellschaft wächst aus dieser Haltung: Sie lernt, zu reflektieren, zuzuhören und die eigene Verletzlichkeit anzuerkennen. Gesellschaftliche Heilung beginnt dort, wo Menschen bereit sind, ihre Reaktionen auf Verletzbarkeit zu prüfen und Verantwortung für die Wirkung ihres Redens zu übernehmen.


Wenn jemand versucht, Gehör zu finden, kann selbst der Weg zu Anlaufstellen schwierig werden. Wer fälschlich beschuldigt wird, wer unter Verdacht steht, selbst Täter zu sein, findet dort oft keinen Raum, weil das Etikett schon haftet. Diese Barriere muss sichtbar gemacht werden. Schutz darf kein Privileg sein – weder für Opfer noch für jene, die zu Unrecht in eine Täterrolle gedrängt werden. Anlaufstellen müssen lernen, zwischen tatsächlicher Gefährdung und Falschbeschuldigung zu unterscheiden, ohne dabei Schutz und Unterstützung zu verweigern. Es braucht Strukturen, die neutral und traumasensibel prüfen, nicht vorschnell urteilen.


Die zweite Gewalt wirkt im Schatten der ersten. Sie ist weniger greifbar, aber ebenso zerstörerisch. Sie entsteht in Sprache, in Zuschreibung, in Nachlässigkeit, in Deutung. Sie ist das Echo einer Gesellschaft, die gelernt hat zu reden, aber verlernt hat zuzuhören.


Verstehen, Prüfen, Schützen – das ist die Aufgabe einer Gesellschaft, die heilen will.

Heilung braucht Räume. Wahrheit braucht Mut. Gerechtigkeit braucht Neutralität.

Nur dort, wo Sprache wieder aufrichtig wird, kann Vertrauen zurückkehren.

Resilienz bedeutet nicht, unverwundbar zu sein. Sie zeigt sich darin, die innere Haltung zu bewahren, auch wenn Vertrauen erschüttert wurde. Eine Gesellschaft wird nicht durch Abwehr stark, sondern durch ihre Fähigkeit, hinzusehen, innezuhalten und sich selbst zu prüfen, bevor sie urteilt.

Resilienz wächst in jedem Einzelnen, wenn wir Verantwortung für das eigene Denken und Handeln übernehmen und uns der Wirkung bewusst werden, die unser Tun auf andere hat. Sie entsteht auch im Miteinander – dort, wo Menschen einander zuhören, anstatt zu bewerten, und bereit sind, das eigene Urteil zu hinterfragen.

Eine wirklich resiliente Gesellschaft erwächst nicht allein aus Bewusstsein und Mitgefühl, sondern auch aus Erfahrung – aus der Fähigkeit, Erschütterungen zu überstehen und daraus zu lernen. Resilienz heißt nicht, Brüche zu vermeiden, sondern sie zu integrieren. Sie entsteht dort, wo Menschen gemeinsam aushalten, was schwer ist, und daraus neue Formen des Miteinanders entwickeln. Vielleicht lässt sich Vertrauen nicht vollständig zurückholen, doch dort, wo Achtsamkeit beginnt, kann etwas Neues entstehen: ein Miteinander, das nicht auf Stärke im äußeren Sinne, sondern auf innerer Standhaftigkeit, Erfahrung und menschlicher Würde beruht.


Eine Gesellschaft, die heilen will, muss ihre Systeme prüfen. Ermittlungsbehörden, Justiz und Institutionen brauchen Schulungen, die Sensibilität und Bewusstsein fördern – für die Dynamiken von Stigmatisierung, für die Macht von Sprache, für die Verantwortung im Handeln, partizipativ und mit der Erfahrungsexpertise von Opfern. Nur wo Strukturen lernen, kann Heilung Bestand haben. Dort beginnt echte Stärke – in der Fähigkeit, Fehler zu erkennen, Verantwortung zu übernehmen und Vertrauen nicht nur zu fordern, sondern zu verdienen.


Resilienz zeigt sich nicht nur im Aushalten, ihre volle Kraft entfaltet sie im Aufstehen. Wer Unrecht erfahren hat, sollte sich nicht zwingen lassen zu schweigen. Sich zu wehren, bedeutet, der eigenen Geschichte Gewicht zu geben – leise, beharrlich, unbeirrbar. Sicherlich, Wege erschöpfen und Widerstände zermürben, doch jede Stimme, die bleibt, ist ein Zeichen von Würde.

Kraft entsteht dort, wo Menschen sich nicht entmutigen lassen, wo sie trotz allem weiter für Wahrheit, Achtung und Gerechtigkeit einstehen.


© Silvia Meck 06. Oktober 2025



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