Stille Kriege des Alltags
- Silvia Meck

- 30. Sept.
- 6 Min. Lesezeit

Von persönlichen Verlusten über Vorurteile bis hin zu
instituioneller Gewalt - ein Blick auf die Strukturen, die uns prägen.
Wie viel wissen wir wirklich über das Leben, die Kämpfe und die Verluste anderer Menschen – bevor wir urteilen, bewerten oder stigmatisieren?
Wir leben in einer Zeit, in der Menschen sehr schnell über andere urteilen.
Ein einzelner Eindruck, ein Gerücht, ein herausgelöster Satz – und schon werden Menschen abgestempelt, kategorisiert, manchmal sogar öffentlich verurteilt. Niemand kann wirklich wissen, was im Inneren eines anderen vorgeht, welche Geschichte er oder sie mit sich trägt, welche Narben und welche Lasten das Leben hinterlassen hat. Vorverurteilungen, Stigmatisierungen und Diffamierungen können tiefe Verletzungen hinterlassen, oft mehr, als man von außen erkennen kann.
Social Media zeigt hier besonders deutlich, was sonst im Stillen passiert:
Wer hinter dem Rücken anderer spricht, Gerüchte streut oder Bewertungen abgibt, wird plötzlich sichtbar. Die kleinen, unscheinbaren Urteile, das Reden über andere, die Diffamierungen – all das, was im Alltag oft verborgen bleibt, tritt plötzlich zutage.
Ich verbinde hier persönliche Erfahrungen von Verlust, Trauer und Resilienz mit der Frage, wie wir als Gesellschaft achtsamer, empathischer und reflektierter miteinander umgehen können.
Trauer, Abschied und die bewusste Entscheidung zum Weiterleben
Im Februar 2021 erhielt mein Mann eine schwere Diagnose. Im Januar 2022 ist er verstorben. Nur ein halbes Jahr zuvor, im Juli 2021, habe ich meinen besten Freund innerhalb von dreieinhalb Wochen an Krebs verloren. Bis Februar 2024 habe ich 14 Menschen beerdigt – darunter nicht nur meinen Mann und meine besten Freunde, sondern auch meine beiden Eltern innerhalb von neun Wochen.
Es war eine Zeit, in der ich das Gefühl hatte, in allen vier Trauerphasen nach Kübler-Ross gleichzeitig zu sein. Viele Dinge, auf die ich jahrelang hingearbeitet hatte, brachen weg. Beruflich konnte ich kaum etwas durchziehen, weil ich schlicht nicht mehr konnte. Ich habe erlebt, dass die Gesellschaft tolerant sein kann – und zugleich oft gar nicht. Wirkliche Empathie ist selten. Menschen, die sich schützend vor einen stellen, müssen irgendwann loslassen, weil das Leben sich weiterdreht und auf der geschäftlichen Ebene niemand ewig Rücksicht nehmen kann.
Ich habe Menschen erlebt, die an einem Todesfall zerbrochen sind – für immer. Irgendwann hatte ich Angst, dass ich nur noch „abhandle“, weil ich gar nicht mehr zum Luftholen kam. Ich war gefühlt nur noch auf Beerdigungen, habe Abschied genommen, funktioniert. In dieser Zeit habe ich auch unsere beiden Katzen beerdigt. Im Februar 2025 – kurz nach dem 11. Geburtstag des Hundes, der mir in dieser Zeit so viel Kraft gegeben hat – musste ich auch ihn erlösen.
Es gibt aber noch eine andere Art von Trauer, die selten benannt wird:
die Trauer um Menschen, die sich bewusst aus unserem Lebenszug verabschieden. Menschen, die nicht gestorben sind, sondern einfach nicht mehr Teil des eigenen Lebens sind. Manchmal nicht in Gutem. Menschen, von denen man sich gewünscht hätte, sie wären noch da – erreichbar, ansprechbar, für gemeinsame Unternehmungen oder ein klärendes Gespräch. Diese Form von Verlust kann sich manchmal fast schwerer anfühlen als der Tod, weil immer noch eine Hoffnung bleibt, dass man sich vielleicht versöhnen, vertragen, aussprechen könnte. Hoffnung, die beim Tod gar nicht mehr möglich ist, weil der Mensch für immer weg ist.
Trotz allem habe ich eines gelernt: Menschen, die uns wichtig waren, hinterlassen Spuren in uns. Wir übernehmen von ihnen Handlungen, Lebensweisheiten, kleine Sätze, Gesten – und tragen sie weiter. Mein Mann sagte zum Beispiel immer „Bleib doch mal ruhig“. Heute sage ich mir das selbst, als wäre er noch da. Mein bester Freund hatte eine bestimmte Art, seinen Namen auszusprechen, damit ihn andere richtig schreiben – auch das habe ich übernommen. So leben diese Menschen ein Stück weit in uns weiter. Wir tragen ihre Spuren, und durch uns bleibt etwas von ihnen lebendig.
Viele haben mich gefragt, wie ich das überhaupt verkraftet habe. Vielleicht liegt es daran, dass ich in meinem Leben schon viele schreckliche Dinge erlebt habe und daran fast zerbrochen bin – aber eben nur fast. Aus diesen Erfahrungen habe ich mir eine Resilienz erarbeitet, die mir hilft, mich gegen Vorverurteilungen, Stigmatisierungen und Diffamierungen zu behaupten. Vielleicht liegt diese Reslienz auch daran, dass ich als ehrenamtliche Hospizhelferin Trauernde begleitet habe, dass ich durch meine Arbeit im psychiatrischen Kontext und meine eigene Erfahrung mit Therapie und Begleitung gelernt habe, was es heißt, Krisen zu durchleben.
Am Ende war es wie in der Vergangenheit eine bewusste Entscheidung:
Ich will leben.
Ich will weitermachen.
Ich will mein Leben neu gestalten.
Vorverurteilungen, Stigmatisierung und gesellschaftliche Verantwortung
In den Institutionen unseres Alltags – Ämter, Kliniken, Polizei, Behörden – zeigt sich oft eine stille, aber wirksame Form der Gewalt. Entscheidungen, die über uns getroffen werden, wirken sich direkt auf unser Leben aus, ohne dass wir Einfluss darauf haben. Ein fehlendes Verständnis, ein vorschnelles Urteil, eine nicht geprüfte Annahme – all das kann Menschen verletzen, sie stigmatisieren oder ihnen Chancen verwehren. Diese Strukturen sind nicht sichtbar für die meisten, doch sie bestimmen den Rahmen, in dem wir uns bewegen.
Es sind nicht die großen Katastrophen allein, die Schaden anrichten, sondern die unsichtbaren Vorgänge, die Entscheidungen, die bürokratisch und anonym wirken, aber konkrete Auswirkungen haben: Ein Antrag, der ignoriert wird, eine Stimme, die überhört wird, ein Urteil, das ohne persönliche Prüfung fällt. Solche Erfahrungen sind oft still, bleiben unbemerkt, und doch prägen sie Menschen tief – manchmal mehr, als wir uns vorstellen können.
Aus all diesen persönlichen Erfahrungen der letzten Jahre und aus meinem gesamten Leben ergibt sich für mich eine Haltung, die weit über das Private hinausgeht. Meine Resilienz – die Kraft, trotz allem nicht zu zerbrechen, sondern mich gegen Stigmatisierungen und Vorverurteilungen aufzulehnen – kommt auch daher, dass ich selbst Gewalterfahrungen überlebt habe. Ich möchte hier nicht ins Detail gehen, aber diese Erfahrungen gehören zu meinem Leben und haben mich geprägt. Andere Menschen haben schwere Erkrankungen überstanden, Kriege und Flucht erlebt oder andere traumatische Krisen durchgestanden. Jeder dieser Wege zeigt: Menschen tragen unermessliche Lasten – und trotzdem entwickeln sie eine Widerstandskraft, die man nicht kleinreden darf.
Gerade deshalb werde ich mich immer gegen vorschnelle Urteile und Stigmatisierungen wehren. Oft sind es diejenigen, die am lautesten schreien und mit dem Finger auf andere zeigen, die selbst am dringendsten Unterstützung bräuchten – Diagnosen, die nie gestellt wurden, Verletzungen, die nie aufgearbeitet wurden. Solche Menschen marschieren durch die Welt, schlagen verbal, psychisch und teilweise auch physisch um sich, ohne Rücksicht darauf, wen es trifft.
Die zerstörerische Kraft solcher Angriffe wird noch immer unterschätzt. Verbale Gewalt, psychische Gewalt, permanentes Abwerten oder Diffamieren – all das hat im Strafgesetzbuch längst nicht das Gewicht, das es verdient hätte. Während körperliche Gewalt juristisch klar erfasst ist, bleibt das seelische Zerstören, das Herabwürdigen und das öffentliche Brandmarken oft ohne Konsequenzen. Doch Worte können Wunden schlagen, die tiefer gehen als manche körperliche Verletzung.
Die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung zeigt, wie dringend wir handeln müssen: Menschen, die sich fachliche Unterstützung holen, werden leicht abgestempelt als „psychisch krank“. Es gibt Diskussionen darüber, ob solche Menschen künftig in Gefährderlisten aufgenommen werden könnten, ob man ihnen Geschäftsfähigkeit oder Schuldfähigkeit abspricht. Grenzen, die klar bleiben müssten – zwischen Krankheit und Meinung, zwischen Hilfebedarf und Gefährdung, zwischen persönlicher Krise und gesellschaftlicher Zuschreibung – verwischen immer weiter.
Social Media zeigt hier besonders deutlich, was sonst im Stillen passiert: Wer hinter dem Rücken anderer spricht, Gerüchte streut oder Bewertungen abgibt, wird plötzlich sichtbar. Die kleinen, unscheinbaren Urteile, das Reden über andere, die Diffamierungen – all das, was im Alltag oft verborgen bleibt, tritt plötzlich zutage.
Strukturelle und institutionelle Gewalt
Die Erfahrungen, über die ich hier schreibe, sind nicht nur individuell. Sie spiegeln sich auch in institutionellen Strukturen wider: in Kliniken, Ämtern, Chefetagen, bei Polizei und Staatsanwaltschaft, in Behörden und Organisationen. Dort, wo Macht, Regeln und Hierarchien auf Menschen treffen, die verwundbar sind oder gerade Krisen durchleben, kann Gewalt subtil oder offen auftreten – durch Vorverurteilungen, fehlende Empathie, bürokratische Härte oder die Missachtung von individuellen Lebensrealitäten.
Strukturelle Gewalt zeigt sich oft in der Art und Weise, wie Menschen behandelt, kategorisiert und bewertet werden, ohne dass die Verantwortung einzelner Entscheidungsträger*innen reflektiert wird. Sie kann dieselbe Wirkung haben wie verbale oder psychische Gewalt im Alltag: Menschen werden verletzt, entmündigt, stigmatisiert – oft ohne dass sie die Möglichkeit haben, sich zu wehren.
Es ist deshalb nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gesellschaftliches Thema, das wir ernst nehmen müssen. Wir müssen lernen, nicht nur auf Worte, sondern auch auf Strukturen zu achten, kritisch zu hinterfragen, wer Macht über Entscheidungen hat, wie diese Macht eingesetzt wird und wie wir sie gemeinsam für ein menschlicheres Miteinander gestalten können.
Verantwortung, Menschenrechte und gesellschaftliche Perspektive
Trotz aller Herausforderungen und der Erkenntnisse, die aus persönlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen gezogen werden können, bleibt eines klar: Die Würde des Menschen ist unantastbar – und sie muss in unserem Handeln und in unseren Strukturen oberste Priorität haben.
Jeder von uns trägt die Möglichkeit in sich, sich gegen Vorurteile, Stigmatisierung und strukturelle Ungerechtigkeit zu stellen – sei es im Alltag, in Behörden, in Kliniken, in der Arbeitswelt oder online. Wir alle können dazu beitragen, dass Entscheidungen, Macht und gesellschaftliche Strukturen nicht verletzen..
Deshalb ist es für mich essenziell, eine Haltung zu entwickeln, die nicht nur auf persönlicher Erfahrung basiert, sondern auch die Würde jedes Menschen respektiert. Menschenrechte und die Verantwortung, empathisch zu handeln, sind keine abstrakten Ideale, sondern konkrete Maßstäbe für unser tägliches Miteinander.
Die Würde des Menschen ist unantastbar – und das gilt nicht nur privat, sondern auch in unseren Institutionen, Behörden und politischen Entscheidungen. Wer Verantwortung trägt, sei es in Ämtern, Parlamenten oder Organisationen, muss sie reflektiert, empathisch und gerecht ausüben. Mein Handeln zeigt, dass persönliche Erfahrung, gesellschaftliche Verantwortung und politisches Engagement untrennbar verbunden sind – und dass wir alle eine Rolle dabei haben, Strukturen menschlicher und fairer zu gestalten.
© Silvia Meck, 01. Oktober 2025




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