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Die Falle der Heilung – Wenn Hilfe zur Schuld wird

  • Autorenbild: Silvia Meck
    Silvia Meck
  • 30. Okt.
  • 5 Min. Lesezeit
Vierfleck-Zartspinne auf einem grünen Blatt.

Es heißt, Heilung beginne mit dem Sprechen. Doch was, wenn das Sprechen selbst

zur Gefahr wird? Wenn jedes Zittern, jede Panik, jedes Schweigen gegen dich ausgelegt wird – als Beweis, dass du übertreibst, dass du zu labil bist, zu aufgewühlt, zu unklar. Wer zu stark reagiert, verliert seine Glaubwürdigkeit. Wer zu ruhig bleibt, verliert seine Betroffenheit. Zwischen diesen Polen hängt ein System, das nur jenen glaubt, die ihre Wunde beherrschen.


In Gerichtssälen zeigt sich dieses Paradox am deutlichsten. Es zählt weniger, was jemand erlebt hat, als wie er darüber spricht. Aussagepsychologie nennt das „Kohärenz“, also die Fähigkeit, eine Geschichte in sich stimmig zu erzählen. Traumaforschung nennt es Symptom, wenn Erinnerungen zerfallen, wenn Sprache sich verheddert oder Emotionen abschalten, um zu überleben. Zwei Systeme, die dieselbe Reaktion völlig unterschiedlich deuten. Zwischen beiden verliert sich die Wahrheit. Viele Betroffene erleben genau das: man kommt vor Gericht, man erzählt das Unfassbare, und trotzdem schaut man nur auf die Form, auf die Fassung. Man spürt, wie die eigenen Worte bewertet, vermessen, manchmal sogar verdächtigt werden.

Stell dir vor, du sitzt da, die Hände zittern vor Panik – und der Richter notiert es als 'nervös'. Deine Symptome werden nicht als Alarm gesehen, sondern als Schwäche.


Kommt Täter-Opfer-Umkehr ins Spiel, verschärft sich die Lage dramatisch. Plötzlich wird das Trauma nicht nur missverstanden, es wird gegen die Betroffenen gewendet. Symptome, die normalerweise Schutzsignale sind, werden als „Beweis“ interpretiert, dass man selbst Schuld trägt, dass man Täter:in sei. Jede Bitte um Unterstützung, jede Therapie, jede psychosoziale Hilfe wird infrage gestellt. Das Trauma selbst wird verdoppelt durch Misstrauen und Stigmatisierung. Wer mitten drin steckt, erlebt eine doppelte Strafe: erst das, was geschehen ist, dann das System, das einen verdächtigt und isoliert.


In psychiatrischen Einrichtungen wiederholt sich das Muster. Was als Reaktion auf Gewalt beginnt, endet oft in einer Diagnose. Gewalt verschwindet hinter Etiketten, die Menschen festschreiben, statt sie zu verstehen. Wer zu instabil ist, landet auf Wartelisten. Wer eine Diagnose hat, wird als Risiko erklärt. Wer beides trägt, gilt als schwierig. So entsteht ein Kreislauf, der Heilung predigt und zugleich bestraft. Wer mitten drin steckt, kennt die Angst: eine Therapie beginnen zu wollen und zugleich zu fürchten, dass jedes Symptom gegen einen verwendet wird. Täter-Opfer-Umkehr verstärkt diese Angst noch einmal, weil man weiß, dass jede Reaktion als Beweis für Schuld gedeutet werden kann. Es ist ein Schwebezustand zwischen Hoffnung, Misstrauen und der ständigen Furcht, falsch interpretiert zu werden.


Auch in der Öffentlichkeit wiederholt sich das Muster. Medien erzählen Geschichten, aber selten Zusammenhänge. Emotion wird zum Maßstab der Glaubwürdigkeit. Zu ruhig gilt als kalt. Zu betroffen als übertrieben. Betroffene werden in Rollen gedrängt, die nichts mehr mit ihrem Erleben zu tun haben. Viele erleben diese Unsichtbarkeit, das ständige Abwägen zwischen Sichtbarkeit und Schutz, als doppelte Gewalt. Manche erzählen von Momenten, in denen sie kaum den Raum verlassen, aus Angst, bewertet zu werden. Andere berichten von Augenblicken, in denen ein einziger Ausdruck der Angst sofort entwertet wird. Es gibt diese stillen Situationen: eine Betroffene sitzt vor Gericht, ihre Hände zittern, während die Richterin fragt, und niemand sieht, dass der Körper die Erinnerung erzählt, lange bevor die Worte es tun. Ein anderer Moment: ein Posteingang voller Schreiben von Behörden, jede Zeile eine kleine Prüfung, die das Trauma erneut aussetzt. Durch Täter-Opfer-Umkehr bekommt jeder kleine Ausdruck noch eine zusätzliche Bedrohung, weil man jederzeit als Täterin abgestempelt werden könnte. Solche Szenen machen spürbar, wie nah und gleichzeitig unnahbar das Leben nach Gewalt ist. Ein winziger Augenblick, eine kleine Geste, ein Zittern in der Stimme kann das gesamte System der Bewertung und Kontrolle spiegeln, das Betroffene ständig begleitet.


Politik spricht gern von Aufarbeitung. Sie gründet Kommissionen, beruft Räte, schreibt Leitlinien. Doch solange Heilung zur Voraussetzung für Gerechtigkeit wird, bleibt alles beim Alten. Solange Betroffene beweisen müssen, dass sie „stabil genug“ sind, um ernst genommen zu werden, spricht kein Staat von Aufarbeitung, sondern von Disziplinierung. Täter-Opfer-Umkehr verschärft die Notwendigkeit, weil das System nicht nur unzureichend schützt, sondern zusätzlich verdächtigt. Statt abstrakter Kommissionen brauchen wir echte Reformen: Traumasensible Schulungen für Richter, die Trauma als Kontext anerkennen, nicht als Mangel, sowie finanzierte Begleitung, die unabhängig vom System ist.


Es ist möglich, es anders zu machen! Politische Verantwortung bedeutet, Strukturen so zu verändern, dass sie nicht gegen Betroffene arbeiten. Traumakompetenz muss verbindlich werden – in Polizei, Justiz und Psychiatrie. Psychosoziale Prozessbegleitung muss flächendeckend verfügbar sein. Wartelisten dürfen kein weiterer Mechanismus sein, der Schmerz bestraft. Gesetzliche Vorgaben müssen prüfen, wie Heilung, Trauma und die Risiken von Täter-Opfer-Umkehr in Verfahren berücksichtigt werden, statt sie als Mangel zu werten. Medien sollten sensibilisiert werden für die Darstellung traumatisierter Menschen, damit ihre Geschichten nicht erneut entwertet werden.


Die Politik kann konkrete Maßnahmen ergreifen: verpflichtende Fortbildungen zu Trauma und Gewalt in allen relevanten Behörden, verbindliche psychosoziale Begleitung für Betroffene in Verfahren, gesicherte Finanzierung für Therapieplätze, klare Regelungen, dass Symptome von Gewalt oder Traumareaktionen nicht gegen die Betroffenen verwendet werden, spezielle Schulungen für Fälle, in denen Täter-Opfer-Umkehr möglich ist. Es geht nicht um abstrakte Worte, sondern um Handeln, das die Würde schützt und die zweite Verletzung verhindert.


Die Erfahrungsexpertise aus der Genesungsbegleitung bringt eine Perspektive ein, die aus eigener Praxis und Haltung erwächst. Sie betont, dass nicht nur Strukturen reformiert werden müssen, sondern dass Haltung und Vertrauen in allen Interaktionen zentral sind. EX-IN Genesungsbegleitung sieht konkrete Chancen darin, dass alle Beteiligten – Polizei, Justiz, Medien – regelmäßig geschult werden, nicht nur fachlich, sondern auch in der Erfahrung von Betroffenen, damit deren Stimme Gewicht bekommt. Sie schlägt vor, Peer-Beratung und partizipative Begleitung verbindlich zu machen, damit die Menschen nicht nur formal, sondern wirklich unterstützt und gehört werden. Ihre Haltung zeigt: Reformen sind nur dann wirksam, wenn die Erfahrungen der Betroffenen selbst in Entscheidungsprozesse einfließen.


Heilung darf keine Bedingung sein. Sie ist kein Leistungsnachweis und keine Eintrittskarte in ein System, das selbst Teil der Verletzung ist. Sie beginnt dort, wo Verantwortung übernommen wird. Wo das Schweigen nicht länger als Selbstschutz gilt, sondern als das, was es ist – eine Folge von Misstrauen, das man gelernt hat.


Heilung ist kein Zeichen der Anpassung. Sie ist Ausdruck von Würde. Ein System, das diese Würde nicht anerkennt, ist selbst krank. Wer Heilung fordert, muss Macht abgeben. Wer Hilfe verspricht, darf nicht prüfen, ob der Schmerz glaubwürdig genug ist. Politik muss handeln, nicht nur reden. Sie muss die Strukturen so ändern, dass Heilung wieder eine Chance hat – für alle. Täter-Opfer-Umkehr muss im Zentrum der Reform stehen, damit niemand durch das System zusätzlich bestraft wird.


Es darf nicht passieren, dass Menschen sich keine Hilfe mehr suchen, weil Misstrauen zum Gruß geworden ist. Eine Gesellschaft, die auf diese Weise Schutz versagt, verliert nicht nur ihre Glaubwürdigkeit, sondern auch ihr Mitgefühl. Vertrauen darf kein Risiko sein. Es muss wieder die Grundlage sein – in der Justiz, in der Medizin, in der Politik.

Die Falle zu erkennen, ist der erste Schritt zur Freiheit. Das System ist das Problem – und die Betroffenen, vielleicht auch du, sind die Stimme, die Veränderung fordert.


Anmerkung:

Dieser Text basiert auf persönlichen Erfahrungen als Genesungsbegleiterin und auf Beobachtungen, die exemplarisch für viele Betroffene stehen, ohne konkrete Personen zu benennen. Er ist Teil einer Reihe über strukturelle Gewalt, Schweigen und Verantwortung und richtet sich an all jene, die sich nicht mehr trauen, Hilfe zu suchen, weil sie schon zu oft verurteilt wurden.

In anderen Beiträgen auf meinem Blog werden ähnliche Themen behandelt und bestimmte Aspekte von Schuld, Misstrauen und den Herausforderungen für Betroffene noch weiter vertieft.


Im Folgenden findest du einen kleinen Auszug dieser weiterführenden Texte:


Warum Unschuld im digitalen Zeitalter kaum noch zählt - Die unsichtbaren Opfer von Rufmord (22. März 2025)


Mein Name gehört mir - Über den Kampf um Identität, Wahrheit und die Frage, wer über unseren Ruf bestimmt (20. April 2025)


Deutungskämpfe – wenn Täter die Geschichte bestimmen und Opfer sich wehren müssen (27. Juni 2025)


Erfahrungen aus dem Systemdschungel - Zwischen Bürokratie, Haltung und Bruchstellen (05. Julie 2025)


Stille Kriege des Alltags - von persönlichen Verlusten über Vorurteile bis hin zu institutioneller Gewalt - ein Blick auf die Strukturen die prägen (1. Oktober 2025)


Die zweite Gewalt (6. Oktober 2025)


© Silvia Meck, 30. Oktober 2025



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