Erfahrungen aus dem Systemdschungel
- Silvia Meck

- 5. Juli
- 6 Min. Lesezeit
Zwischen Bürokratie, Haltung und Bruchstellen

„Verloren im Paragraphendschungel“ – dieser Satz beschreibt treffend, was viele Menschen erleben, die Hilfe und Unterstützung suchen. Was aber wenn Sozialgesetze, fehlende Empathie und politische Ohnmacht Menschen an der Basis scheitern lassen? Was bedeutet das für Teilhabe und Selbstbestimmung?
Die Werner-Bonhoff-Stiftung sammelt zahlreiche Berichte von Menschen, die sich von endlosen Formularen, unklaren Regeln und kalten, bürokratischen Prozessen überwältigt fühlen. Was eigentlich Sicherheit geben und unterstützen sollte, verwandelt sich schnell in eine undurchdringliche Mauer aus Papier und Vorschriften, hinter der viele verzweifeln.
Laura Gehlhaar, eine engagierte Aktivistin, schildert eindrücklich in ihrem Blog und dem Buch „Kann man da noch was machen?“ ihre persönlichen Kämpfe um soziale Teilhabe. Sie berichtet von einem Alltag, der ständig geprägt ist von Diskussionen mit Behörden und Ämtern, um das zu erhalten, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: ein Leben in Würde und Selbstbestimmung. Diese Kämpfe hinterlassen Spuren, bringen Frust, Erschöpfung und oft auch ein Gefühl der Hilflosigkeit mit sich.
Ähnliche Erfahrungen teilen viele Menschen mit Behinderungen, wie aus dem Abschlussbericht der Repräsentativbefragung zur Teilhabe (Teilhabesurvey), Welle 2 der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) deutlich wird.
Der Bericht ist Stand (März 2025) kostenfrei auf der DVfR-Webseite verfügbar.
Er zeichnet ein klares Bild: Hinter den Zahlen und Statistiken verbergen sich Lebensgeschichten – geprägt von ständiger Rechtfertigung, von mangelndem Verständnis und einem Gefühl, als ob die eigenen Bedürfnisse und Träume keine Rolle spielten. Institutionelle Ignoranz und starre Abläufe verhindern oft genau das, was sie eigentlich fördern sollten – echte, uneingeschränkte Teilhabe.
Auch aus psychiatrischen Einrichtungen werden Erfahrungen geschildert, die tief bewegen. Betroffene erzählen von Stigmatisierung, von einem Klima der Kontrolle statt Unterstützung und von Situationen, in denen ihre Selbstbestimmung kaum Raum findet. Zwangsmaßnahmen und bürokratische Abläufe ersticken oft die Möglichkeit, individuelle Bedürfnisse und Wünsche zu äußern. Diese Erlebnisse hinterlassen Narben, die weit über die Dauer des Klinikaufenthalts hinausgehen und das Vertrauen in Hilfeangebote nachhaltig erschüttern.
Die aktuelle Debatte um das geplante Register für Menschen mit psychischen Erkrankungen in Hessen wirft dabei einen beunruhigenden Schatten voraus. Wer heute in einer seelischen Krise den Mut aufbringt, sich professionelle Hilfe zu suchen, muss künftig möglicherweise damit rechnen, dauerhaft erfasst und registriert zu werden. Das zerstört Vertrauen, verhindert offene Gespräche – und wird Menschen davon abhalten, sich überhaupt noch Unterstützung zu holen.
Ein Register für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen einzuführen und Informationen an Polizei oder Sicherheitsbehörden weiterzugeben, verdeutlicht, wie schnell aus Kontrolle Ausgrenzung und Gewalt werden kann. Es ist eine Entwicklung, die an den Grundfesten von Teilhabe und Menschenrechten rüttelt und das statt Schutz und Hilfe zu bieten, zu Misstrauen, Zwang und weiterem Ausschluss beiträgt.
Besonders dramatisch werden diese Erfahrungen im Kontext von Armut und Wohnungslosigkeit. Wer einmal in diesen Strudel geraten ist, findet sich oft nicht nur materiell, sondern auch emotional am Rand der Gesellschaft wieder. Bürokratie wird hier zum Werkzeug der Ausgrenzung statt Unterstützung, und viele Betroffene erleben tägliche Demütigungen, wenn sie sich Hilfe suchen. Politische Ohnmacht und gesellschaftliche Vorurteile verschärfen diese ohnehin schwierige Lage zusätzlich.
Initiativen wie die Zentren Selbstbestimmt Leben (ZSL), die von Menschen mit Behinderungen gegründet und geleitet werden, um ihre Interessen zu vertreten und ihre Selbstbestimmung zu fördern, setzen zwar auf Empowerment und Teilhabe, kämpfen jedoch gegen mächtige Strukturen und weitreichende Probleme an. Obwohl sie wertvolle Arbeit leisten, zeigt sich deutlich: Die strukturellen Herausforderungen sind gewaltig und erfordern umfassende Reformen.
Diese Geschichten sind keine Einzelfälle – sie sind Ausdruck eines Systems, das Empathie, Verständnis und echte Teilhabe oft vernachlässigt. Es wird klar, dass dringend eine gesellschaftliche und politische Haltung notwendig ist, die nicht nur Verständnis zeigt, sondern auch konkrete Lösungen bietet. Nur wenn Empathie, Respekt und Selbstbestimmung im Mittelpunkt stehen, kann wirkliche Teilhabe für alle Menschen Realität werden.
Neue Eingliederungshilfe – ein zarter Hoffnungsschimmer?
Nach bisherigen Informationen und Medienberichten plant die Regierungskoalition folgende Maßnahmen für Menschen mit Behinderung:
• Die integrierte Leistungsplanung soll Behördenverflechtungen auflösen – ein Amt für alles statt Formularlabyrinthe.
• Eine Verbesserung des Budgets für Arbeit und Ausbildung soll den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erleichtern.
• Weitere Barrierefreiheit im Alltagsleben ist vorgesehen, ebenso wie mehr Mitbestimmung für Betroffene.
Grundidee: Die Eingliederungshilfe soll aus dem Fürsorgesystem ausgebrochen, stärker personenzentriert und selbstbestimmt aufgestellt werden .
Warum fühlt sich das trotzdem unbefriedigend an?
Bürokratie ersetzt Freiheit.
Das Bundesteilhabegesetz versprach seit 2020 mehr Selbstbestimmung – doch die Realität sieht für viele Betroffene anders aus. Statt mehr Freiraum erleben sie vor allem wachsenden Papierkram, zusätzliche Anträge und bürokratische Hürden. Die großen Versprechen der Reform bleiben im Alltag stecken – zwischen Formularen, Unsicherheit und Frust.
Personenzentrierung bleibt oft Theorie.
Auf dem Papier klingt alles wunderbar: Wunsch- und Wahlrechte, individuelle Planung, selbstbestimmte Teilhabe. Doch sobald es konkret wird, zeigt sich schnell: Die schöne Theorie wird zum nächsten Stolperstein. Mehr Abstimmungen, noch mehr Dokumentationspflichten – und unterm Strich bleibt oft weniger Zeit fürs eigentliche Leben.
Sparzwang statt Selbstbestimmung.
Wer genauer hinsieht, erkennt schnell: Die Reform wird von knappen Kassen ausgebremst. Der Kreis der Leistungsberechtigten wird eingeschränkt, Bevormundung nimmt spürbar zu, der versprochene Bürokratieabbau bleibt aus. Was politisch als Fortschritt verkauft wird, kostet die Betroffenen in der Realität vor allem Kraft, Zeit – und echte Möglichkeiten.
Werkstätten-Reform: Chance oder Risiko?
Die geplante Öffnung der Werkstätten klingt zunächst nach Aufbruch und vielversprechend – Inklusionsbetriebe, Mindestlohn, mehr Teilhabe am Arbeitsleben. Doch solange es an klaren Konzepten und ausreichender Unterstützung fehlt, bleibt das Risiko hoch: Vele Menschen könnten am Ende nicht profitieren – sondern weiter durchs Raster fallen.
Warum Selbstbestimmung und Teilhabe aktuell eher schmal ausfallen
Das alles zieht einen Schatten über die ursprüngliche Idee: Statt Menschen zu stärken, erzwingen starre Verfahren und Sparzwänge eine exakte Abwicklung – ein Denken, das eher auf Verwaltung als auf Menschen berafft ist.
Betroffene fühlen sich oft zwischen Ämtern zerrieben: Sie sollen alle Rechte selbst wahrnehmen – aber gleichzeitig bürokratische Hürden überwinden, Anträge stellen, Nachweise erbringen. Das ist weniger Freiheit – das ist Ermattung.
Was können Betroffene tun?
Teilhabeplanung aktiv mitgestalten
Wer betroffen ist, kann sich wehren – auch wenn es oft mühsam ist. Ein erster Schritt ist, die Teilhabeplanung aktiv mitzugestalten. Das gesetzlich vorgesehene Gesamtplanverfahren bietet die Möglichkeit, Wünsche und Ziele einzubringen. Wer gut vorbereitet in Gespräche geht, eigene Notizen nutzt und dranbleibt, verschafft sich mehr Einfluss auf das eigene Leben.
Unterstützung suchen
Auch Unterstützung von außen kann helfen, um nicht allein zu kämpfen. Beratungsstellen wie die Zentren Selstbestimmt Leben (ZSL), Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB), Selbsthilfegruppen oder Interessenvertretungen kennen die Stolpersteine – und helfen dabei, die eigenen Rechte besser durchzusetzen.
Gemeinsam laut werden
Gemeinsam laut werden bleibt ein wichtiger Hebel. Lokale Fortbildungen, Werkstatträte, Aktivist*innen – überall, wo Menschen sich zusammenschließen, entsteht öffentlicher Druck und öffentlicher Druck bringt politische Bewegung.
Geduldig bleiben, dokumentiert bleiben
Wer sich nicht alles gefallen lassen will, muss dokumentieren. Mails, Briefe, Protokolle – es lohnt sich, Formfehler, Fristen oder unfaire Bescheide schriftlich festzuhalten. Wer sauber belegen kann, wo Rechte verletzt wurden, hat bessere Chancen, Verfahren zu korrigieren.
Rechtliche Unterstützung nutzen
Es gibt Anlaufstellen, die helfen, wenn Rechte verweigert werden.
Behindertenbeauftragte, Sozialverbände oder spezialisierte Anwält:innen können hierbei unterstützen.
Persönliche Zwischenbilanz
Mir ist wichtig:
Selbstbestimmung endet nicht an Behördenschreibtischen.
Sie beginnt mit Mut – dem Mut, Rechte einzufordern, sich zu vernetzen, laut zu sein und Vertrauen in sich selbst zu haben.
Es ist ein mühsamer Weg. Aber jeder Schritt, bei dem du dein Teilhaberecht einforderst und mitgestaltest, stärkt nicht nur dich – sondern die ganze Idee von echter Inklusion und Selbstbestimmung in unserem Land.
Was die Gesellschaft endlich verstehen muss
Unsere Gesellschaft muss begreifen, dass es nicht reicht, Inklusion und Teilhabe nur auf Papier und in schönen Worten festzuhalten. Selbstbestimmung bedeutet nicht, allein gelassen zu werden mit Anträgen, Formularen und Barrieren – sie bedeutet, begleitet zu sein, gesehen und respektiert zu werden, genau dort, wo man steht.
Es reicht nicht, Strukturen nur zu vereinfachen oder Prozesse zu optimieren, wenn dahinter kein echtes Verständnis für Menschen steckt. Bürokratie ist nicht das Kernproblem, sondern der Ausdruck einer Haltung, die Menschen eher verwaltet als ernst nimmt.
Die Gesellschaft muss verstehen, dass Menschenrechte nicht verhandelbar sind, sondern Grundrechte, die für alle gelten – ohne Ausnahme. Solange wir nicht anerkennen, dass wir Vielfalt leben und nicht regeln sollten, bleibt echte Teilhabe eine Illusion.
Es braucht eine neue Kultur der Begegnung, der Empathie, in der klar wird, dass jede und jeder Einzelne eine Stimme verdient – und vor allem gehört wird. Erst wenn wir bereit sind, zuzuhören, statt vorschnell zu urteilen, wird sich etwas ändern. Erst dann wird aus Paragraphen und bürokratischer Kälte eine lebendige, menschliche Gesellschaft, in der niemand verloren geht.
Es ist Zeit, dass wir das gemeinsam verstehen – und danach handeln.
Was wir definitiv nicht brauchen, ist Faschismus. In einer Welt, in der Menschlichkeit zählen sollte, darf es keinen Platz für Ausgrenzung, Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit geben. Wir müssen gemeinsam einstehen für Demokratie, Vielfalt und Solidarität – und jede Form von Faschismus klar und deutlich zurückweisen.
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Wer sich tiefer mit den Hintergründen beschäftigen möchte, findet in meinen früheren Texten ergänzende Perspektiven: In „Ich höre zu und weiß nicht, was ich sagen soll“ geht es um das Schweigen in Strukturen, wenn Menschen psychische Gewalt erleben – und wie institutionelle Untätigkeit zum Teil des Problems wird.
„Bedürfnisse ohne Stimme – und die Kunst, sie sichtbar zu machen“ zeigt, wie leise Bedürfnisse oft übersehen, pathologisiert oder schlicht übergangen werden – besonders dann, wenn Systeme nicht zuhören können oder wollen. Dieser Text führt diese Themen weiter: Er fragt nicht nur nach politischen Antworten, sondern danach, wie eine Gesellschaft sich verändert, wenn sie beginnt, Menschen wirklich zuzuhören.
„Deutungskämpfe – wenn Täter die Geschichte bestimmen und Opfer sich wehren müssen“ zeigt eine persönliche Spur zu dem, was hinter Formularen und Behördenroutinen oft unsichtbar bleibt: psychologische Gewalt, Sprachlosigkeit, strategische Täter-Narrative – und der stille Kampf um die eigene Geschichte. Denn strukturelle Macht wirkt nicht nur durch Gesetze, sondern auch durch Schweigen.
© Silvia Meck, 05. Juli 2025




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