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Erfahrungsexpertise in der Psychiatrie

  • Autorenbild: Silvia Meck
    Silvia Meck
  • 10. Juli
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Juli

Chancen, Haltung und Rolle – Meine Antwort auf die Debatte um EX-IN

Logo EX-IN Deutschland
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Es ist still geworden, wenn es laut wird und genau das ist das Paradoxe an dieser Debatte: Je mehr über EX-IN gesprochen wird, desto weniger Raum scheint manchmal für das, worum es eigentlich geht: Haltung, Herkunft, gelebte Widersprüche.


EX-IN steht für „Experienced Involvement“ – ein professionsübergreifender Ansatz, bei dem Menschen mit eigener psychischer Krisenerfahrung als sogenannte Peers andere Betroffene auf Augenhöhe begleiten – in Kliniken, Projekten, Kursen. Dabei wird gelebtes Wissen Teil von Beziehung, Unterstützung und Haltung.


Ich arbeite als Genesungsbegleiterin EX-IN, ich begleite Kurse, spreche mit Menschen, die an sich selbst zweifeln, weil das „System“ ihnen nicht zuhört. Ich kenne beide Seiten: das Bedürfnis, helfen zu wollen – und das Ringen darum, selbst nicht unterzugehen.


Dabei  frage ich  mich immer wieder:

Was braucht es um andere gut begleiten zu können.  Krisenerfahrung, Fachwissen, Empathie? Gibt es noch  mehr – und wenn ja: Was genau?

Dieser Text ist kein Urteil, kein Plädoyer für oder gegen Zertifikate, Schulungen oder Methoden. Er ist eine Einladung. Zum Hinschauen, zum Differenzieren und zum Miteinander.


Was ist Erfahrungsexpertise – und was wird oft daraus gemacht?


Erfahrungsexpertise bedeutet nicht, dass man „weiß, wie es geht“. Sie bedeutet: Ich war da. Ich habe erlebt, was es heißt, Hilfe zu brauchen – und keine zu bekommen. Ich kenne das Gefühl, übersehen zu werden, den Tunnel, das Hamsterrad, die Not und die Ohnmacht, die eine Krise ausmacht – und das System, das vorgibt zu helfen, aber oft nur verwaltet. Die damit verbundenen Folgen sind vielfältig und oft schwer zu fassen – sie wirken lange nach, auch wenn sie nicht immer sichtbar sind. Dazu gehören Misstrauen, Rückzug, Scham und die Angst, erneut zu scheitern.


Dieses Wissen ist nicht neutral – es ist persönlich und das ist genau seine Stärke, aber eben auch seine Grenze. Erfahrung allein macht niemanden zur Begleiter:in. Ohne Reflexion kann sie sogar zur Falle werden: Wenn ich von mir auf andere schließe. Wenn ich meine Geschichte mit der eines anderen Menschen verwechsel. Wenn ich helfen will – aber dabei meine eigenen Wunden wieder aufreiße.


EX-IN ist nicht Therapie. Es ersetzt keine Fachausbildung, keine Diagnosekompetenz, keine therapeutischen Verfahren. Aber es bringt etwas ein, das in vielen Settings fehlt: das Wissen von innen, aus der Krise – und aus dem System. Dieses Wissen umfasst nicht nur Gefühle oder Erleben – sondern auch Strukturen. Viele Menschen mit Erfahrungskompetenz wissen, wie es sich anfühlt, durch Anträge zu scheitern, in Klinikprozesse eingespeist zu werden oder sich in einem System zu verlieren, das vorgibt zu helfen. Es ist genau dieses doppelte Wissen – emotional und institutionell – das EX-IN so wertvoll macht und so schwer einordenbar für Systeme ist, die Objektivität gewohnt sind.


EX-IN als Haltung – nicht als Heilsversprechen


EX-IN ist keine Methode. EX-IN ist eine Haltung. Eine innere Entscheidung, präsent zu bleiben – auch dann, wenn es unbequem wird. Eine Einladung, nicht alles wissen zu müssen, aber bereit zu sein, sich einzulassen.

EX-IN heißt nicht: „Ich weiß, wie du dich fühlst“, sondern: „Ich kann vielleicht mit dir dort sitzen, wo du gerade bist.“ Das braucht Nähe, aber Nähe braucht Distanz. Begleitung braucht Klarheit und Empathie braucht auch die Fähigkeit, sich abzugrenzen. Verletzlichkeit kann zur Kraft werden – aber nur dann, wenn sie nicht in den Vordergrund drängt. EX-IN funktioniert nicht, wenn die eigene Geschichte dominiert. Es wirkt, wenn sie leise mitschwingt – als Resonanzraum, nicht als Bühne.


Diese Haltung ist Teil der EX-IN-Weiterbildung – sie wird in Peerarbeit, Rollenklarheit und Selbstreflexion geübt. Doch auch hier gibt es Spannungen: zwischen Anspruch und Umsetzung, zwischen innerer Arbeit und dem Druck, sich schnell einfügen zu müssen. EX-IN bleibt ein Lernweg, kein fertiges Können.

Ich sehe es daher sehr kritisch, wenn Menschen die Tätigkeit beginnen, bevor sie ihre Rolle überhaupt gefunden haben – oder parallel noch im Kurs sind.


EX-IN steht nicht für: „Ich habe etwas erlebt, also kann ich besser helfen.“

EX-IN heißt: Ich habe erlebt, was es bedeutet, in einer Krise zu sein – und ich habe gelernt, dieses Erleben zu reflektieren, einzuordnen und verantwortungsvoll weiterzugeben. Im Zentrum steht nicht die Krise, sondern der Umgang mit ihr. Nicht die eigene Geschichte, sondern die Fähigkeit, sie nicht zum Maßstab für andere zu machen.


EX-IN heißt nicht, seine Wunde vorzuzeigen, sondern zu verstehen, was Wunden bedeuten – und wie unterschiedlich sie sich anfühlen können.

Es geht um Beziehungskompetenz, um Präsenz, um Selbstreflexion und um die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – auch dafür, nicht alles zu wissen, aber dazubleiben.


Die Haltung von EX-IN bedeutet auch:

• „Ich weiß, was Ohnmacht ist – und deshalb maße ich mir nicht an, zu wissen, was richtig für dich ist.“

• „Ich habe Erfahrung – aber sie ist nicht die Wahrheit. Sie ist ein möglicher Resonanzraum.“

• „Ich teile nicht mein Erleben, um Raum zu füllen – sondern um Raum zu öffnen.“


EX-IN ist auch kein Schutzschild, es ist eine Einladung, sich mit der eigenen Herkunft zu zeigen, ohne sich in ihr zu verlieren und anderen zu begegnen – auf Augenhöhe, mit Haltung, mit Demut.


Was Fachlichkeit und Erfahrung voneinander lernen können


Fachlichkeit ist kein Feind von Erfahrung und Erfahrung ist keine Gefahr für Fachlichkeit, im besten Fall ergänzen sie sich.

Therapeutische Methoden, Diagnostik, rechtliches Wissen – all das schützt. Es sorgt für Klarheit, für Sicherheit, für nachvollziehbare Wege, aber es kann auch trennen, wenn Beziehung auf der Strecke bleibt.

Umgekehrt kann Erfahrung Nähe ermöglichen, Zutrauen, Ermutigung, aber ohne Reflexion kann sie überfordern oder in alte Muster kippen.


Was wir brauchen, ist kein Entweder-oder, sondern Räume, in denen beides da sein darf. Räume, in denen Fachleute Macht abgeben – und Peers ihre Rolle bewusst einnehmen. Räume, in denen das Gemeinsame wichtiger wird als das Trennende.


Was die Debatte über uns als Gesellschaft verrät


Die Debatte um EX-IN zeigt, wie schwer es uns fällt, gelebtes Wissen anzuerkennen – vor allem, wenn es nicht formal geprüft ist. Wer darf sprechen? Wem wird geglaubt? Was gilt als „professionell“? Erfahrungsexpertise stellt diese Fragen herausfordernd, weil sie Wissen sichtbar macht, das sonst oft übersehen wird – Wissen aus Ohnmacht, Stillstand und Ausschluss.


Die Forderung nach „mehr Professionalität“ in der EX-IN-Arbeit klingt nachvollziehbar – und doch schwingt in ihr oft ein doppelter Maßstab mit. Denn auch in anderen Berufsgruppen gibt es keine Garantie für Haltung, Nähe-Distanz-Kompetenz oder Selbstreflexion. Es gibt empathische und klare Ärzt:innen – und solche, die übergriffig sind. Es gibt Psycholog:innen, Pflegekräfte und Sozialpädagog:innen, die mit Haltung arbeiten – und andere, die kaum gelernt haben zuzuhören. Warum also sollte EX-IN an einem Ideal gemessen werden, das nirgendwo durchgängig erfüllt wird?


Wahre Professionalität zeigt sich nicht in Perfektion, sondern in der Bereitschaft, sich selbst zu hinterfragen und Menschen als Lernende zu sehen – auch uns selbst. Es braucht weniger Misstrauen und mehr Vertrauen in die Lernfähigkeit aller Beteiligten.

Es geht nicht darum, therapeutisches, medizinisches oder sozial- pädagogisches Wissen abzuwerten, sondern darum, die Deutungshoheit zu öffnen – für Stimmen, die lange geschwiegen haben, oder zum Schweigen gebracht wurden.

EX-IN bringt nicht nur neue Perspektiven in die psychosoziale Arbeit – es fordert auch unsere Vorstellungen von Kompetenz, Autorität und Verantwortung heraus.


Vermutlich bleibt deshalb EX-IN oft halbherzig eingebunden: als Projekt, als begleitende Maßnahme, als Imagefaktor. Wenn Erfahrungsexpertise aber nur „dazugestellt“ wird, ohne echte strukturelle Anerkennung, verliert sie ihre Wirkkraft.

Erfahrung braucht nicht nur Raum. Sie braucht Respekt - auch dann, wenn sie unbequeme Fragen stellt.


Fazit: Keine Konkurrenz – sondern Koexistenz


EX-IN ist keine Konkurrenz zur bisherigen Fachlichkeit, es ist eine Ergänzung – eine, die unbequem sein kann. Eine, die nicht immer glatt läuft, aber eine, die gebraucht wird.


Wir brauchen Fachpersonen aus Studium und klassischer Ausbildung – reflektiert, klar und sicher in ihrer Rolle UND wir brauchen Fachpersonen aus Erfahrung – mit Weiterbildung, Haltung und gemeinsamem Wir-Wissen. Nicht als Ergänzung, oder als Stellvertreter, sondern als eigene Stimme und Perspektive.


Erfahrung ist keine Garantie, aber auch kein Defizit. Sie ist eine Herkunft und wenn sie in Haltung verwandelt wird, kann aus ihr etwas Kraftvolles entstehen. Nicht jeder Mensch mit Krisenerfahrung muss begleiten, aber niemand sollte das Recht auf Mitsprache verlieren, nur weil er nicht aus einem Lehrbuch zitiert.


Echte Begleitung entsteht nicht im Entweder-oder, sondern im Dazwischen.


© Silvia Meck, 10. Juli 2025

1 Kommentar

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Gast
24. Juli
Mit 5 von 5 Sternen bewertet.

Hallo Silvia,

ich bin begeistert, von deinen Artikel und deinen Haltung als Erfahrungsexpertise. Du hast es toll auf den Punkt gebracht.

Weiter so.

Beste Grüße,

Genesungbegleiterin Martin Pilney


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