Ist Politik inklusiv?
- Silvia Meck

- 11. Okt.
- 5 Min. Lesezeit

Die Frage, ob Politik inklusiv ist, muss man eigentlich umdrehen:
Wer kann überhaupt wirklich dabei sein?
Für viele Menschen ist politische Teilhabe schon im Alltag eine Herausforderung. Besonders für behinderte Menschen bedeutet es ein ständiges Ringen mit Strukturen, die nicht auf ihre Lebensrealität ausgerichtet sind. Selbst alltägliche Dinge – auf die Toilette gehen, sich anziehen, Arzttermine wahrnehmen oder Therapien – beanspruchen mehr Zeit. Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind oder komplexe medizinische Abläufe koordinieren müssen, haben einen Zeitbedarf, der in politischen Prozessen kaum vorgesehen wird. In einem Betrieb, der Termine kurzfristig setzt, Texte schnell konsumieren will und schnelle Entscheidungen erwartet, wird diese Realität oft ignoriert. Eine echte Teilhabe erfordert Zeit, Geduld und Verständnis – Dinge, die selten einkalkuliert werden.
Politik beansprucht für sich, inklusiv zu sein. Demokratie lebt vom Versprechen, dass alle mitgestalten können, unabhängig von Herkunft, Einkommen, Geschlecht oder Behinderung. Doch zwischen Anspruch und Realität klafft eine große Lücke. Viele politische Veranstaltungen finden in Gebäuden statt, die nicht barrierefrei sind. Treppen, fehlende Aufzüge oder unzugängliche Sanitäranlagen verhindern oft schon die Teilnahme. Manche Menschen im Rollstuhl müssen den Hintereingang nehmen, wenn es überhaupt eine Möglichkeit gibt – Inklusion findet dann buchstäblich „hintenrum“ statt.
Auch die Art, wie Informationen vermittelt werden, erschwert Teilhabe:
Komplexe Texte, Fachjargon, kurze Fristen und enge Abläufe setzen Menschen unter Druck, die mehr Zeit für das Lesen, Verstehen und die Organisation brauchen. Ein mehrseitiger Haushaltsentwurf, der Freitagabend verschickt wird und Montag früh beantwortet sein soll, schließt viele faktisch aus – sei es durch längere Lesezeit bei kognitiven Einschränkungen, durch Assistenzbedarf beim Bearbeiten oder durch andere Terminverpflichtungen. Digitale Formate sind ebenfalls oft nicht barrierefrei; Untertitel, Gebärdensprachdolmetscher oder leicht verständliche Versionen fehlen in der Regel. Bei Online-Sitzungen kommt es nicht selten vor, dass Untertitel fehlen, spontane Abstimmungen per Handzeichen laufen oder die Software nicht mit Screenreadern kompatibel ist. Für Menschen mit Seh- oder Hörbehinderungen ist das kein kleiner Mangel, sondern ein Ausschluss.
Menschen mit Behinderung, chronischen Erkrankungen oder zusätzlichen Pflichten tragen oft doppelte Belastungen. Neben dem normalen Alltag kommen Arzt- und Therapietermine, Übungen, Hilfsmittelpflege und teilweise Assistenzkoordination hinzu. Während die politische Mehrheitsgesellschaft mit schnellen Sitzungen, kurzen Fristen und starren Abläufen klarkommt, sind diese zusätzlichen Anforderungen für viele Teilnehmende nicht sichtbar – und werden daher kaum berücksichtigt.
Für neurodivergente Menschen bedeutet eine Sitzung bis spät in die Nacht Reizüberflutung und Überforderung. Für Menschen mit Depressionserfahrungen oder Angststörungen ist die Erwartung spontaner Wortmeldungen eine zusätzliche Hürde. Und wer für eine Gremiensitzung per Zug anreisen muss, ist auf vorherige Anmeldung von Mobilitätshilfen angewiesen – die nicht immer zuverlässig erscheinen. Wenn dann noch ein Zug verspätet ist, kann eine Sitzung komplett verloren gehen.
Dort wo Strukturen formal offen sind, fehlt es oft am Klima für wirkliche Inklusion. Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen stoßen oft auf Anfeindungen – subtil oder direkt. Wer langsamer liest, mehr Erklärungen braucht oder Pausen einfordert, gilt schnell als „nicht belastbar“. Gerade bei psychiatrischen Diagnosen oder neurodivergenten Lebensweisen sind Vorurteile weit verbreitet. Das geht bis hin zu Mobbing. Wer offen über eigene Einschränkungen spricht, riskiert, nicht mehr ernst genommen oder in Frage gestellt zu werden: „Bist du überhaupt geeignet für Politik?“ Die Botschaft ist deutlich – Inklusion wird als Anspruch anerkannt, aber sobald sie Konsequenzen für Abläufe oder Erwartungen hätte, kippt die Stimmung.
Dahinter steckt oft ein defizitorientiertes Bild: Wer anders arbeitet oder sensibler reagiert gilt schnell als schwächer, weniger intelligent oder nicht vollwertig.
Diese Haltung widerspricht dem eigentlichen demokratischen Anspruch:
dass Vielfalt von Erfahrungen und Lebensweisen die Politik bereichert.
Stattdessen wird sie häufig als Belastung betrachtet. Echte Inklusion bedeutet deshalb nicht nur, Strukturen barrierefrei zu gestalten, sondern auch, eine Kultur des Respekts zu entwickeln. Kein Abwerten, kein Herabsetzen, kein Ausschluss über subtile Leistungsnormen. Demokratie verliert, wenn sie Vielfalt nur duldet, statt sie als Stärke zu begreifen.
Die fehlende Repräsentanz verstärkt diese Probleme. Menschen mit Behinderung, aus einkommensschwachen Schichten oder mit Migrationshintergrund sind in Parlamenten, Parteien und Entscheidungsgremien stark unterrepräsentiert.
Ihre Perspektiven fließen selten in Entscheidungen ein, politische Inhalte spiegeln überwiegend die Erfahrungen der privilegierten Mehrheit wider. Wer nicht vertreten ist, wird weniger gehört; wer weniger gehört wird, bleibt weiterhin ausgeschlossen. Politische Entscheidungen entstehen also oft ohne die Menschen, die ohnehin schon durch strukturelle Barrieren benachteiligt sind.
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Im Deutschen Bundestag sitzen aktuell kaum Abgeordnete mit sichtbarer Behinderung, und auf kommunaler Ebene ist die Repräsentanz noch geringer. Entscheidungen werden also überwiegend von Menschen getroffen, die selbst wenig Erfahrung mit Barrieren im Alltag haben.
Diese Realität hat Folgen weit über die Teilnahme an Sitzungen hinaus. Gesetzgebung, kommunale Planungen oder Förderprogramme spiegeln oft nicht die tatsächlichen Bedürfnisse, weil diejenigen, die betroffen sind, nicht sichtbar mitgestalten können. Das sendet auch ein Signal. Teilhabe ist ein Anspruch, aber keine gelebte Praxis. Wer politisch aktiv sein will, muss die Hürden allein überwinden – ein System, das auf der einen Seite Inklusion fordert, auf der anderen Seite aber kaum Räume dafür schafft.
Wenn Politik inklusiv sein will, reicht es nicht, nur Forderungen zu stellen. Strukturen, Abläufe und Kultur müssen sich verändern. Dazu gehört, dass politische Termine langfristig und flexibel geplant werden, sodass Menschen mit unterschiedlichen Alltagserfordernissen teilnehmen können. Texte und Dokumente müssen barrierefrei sein, in leicht verständlicher Sprache, mit digitalen Alternativen, Untertiteln und Gebärdensprachdolmetschern. Räume müssen zugänglich sein, und digitale Beteiligungsformate sollten für alle nutzbar sein – unabhängig von körperlichen oder kognitiven Einschränkungen.
Darüber hinaus braucht es eine stärkere Repräsentanz. Menschen, die heute unterrepräsentiert sind, müssen systematisch in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Das bedeutet, Barrieren nicht nur zu erkennen, sondern auch Ressourcen, Begleitung und Unterstützung bereitzustellen, damit Teilhabe tatsächlich möglich wird. Politik muss mit gutem Beispiel vorangehen – sie muss selbst entschleunigen, zuhören, mitdenken und Strukturen anpassen, statt Teilhabe nur zu fordern.
Eine inklusive Politik muss deshalb mindestens Folgendes gewährleisten:
Barrierefreie Räume und digitale Formate als Standard, nicht als Ausnahme.
Unterlagen rechtzeitig, barrierefrei und in verschiedenen Formaten (auch leicht verständlich).
Verlässliche Finanzierung von Assistenz-, Dolmetsch- und Fahrtkosten für politische Arbeit
Hybride Sitzungen, bei denen Untertitel und Gebärdensprachdolmetschung selbstverständlich sind.
Flexible und transparente Zeitplanung, die unterschiedliche Lebensrealitäten berücksichtigt.
Strukturelle Repräsentanz von Menschen mit Behinderung in Parteien und Gremien, nicht nur punktuell.
Eine Kultur des Respekts, in der alle Teilnehmenden wertgeschätzt werden, Vorurteile und Abwertung aktiv vermieden werden und Vielfalt als Stärke begriffen wird.
Inklusion ist nicht nur ein Gewinn für die direkt Betroffenen. Entschleunigung, flexible Abläufe, verständliche Kommunikation und vielfältige Perspektiven tun der gesamten Gesellschaft gut. Sie machen politische Entscheidungen gerechter, demokratischer und nachhaltiger. Eine inklusive Politik wäre nicht nur ein Anspruch, sondern gelebte Praxis. Eine Politik, die Menschen wirklich erreicht, die Vielfalt ernstnimmt und die Teilhabe ermöglicht.
Politik ist nicht inklusiv – echte Teilhabe wird nur möglich, wenn Vielfalt ernst genommen, Strukturen und Kultur angepasst und Repräsentanz tatsächlich umgesetzt wird.
© Silvia Meck, 11. Oktober 2025




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