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Ableismus, den keiner sehen will

Wald bei Enkenbach-Alsenborn
Wald bei Enkenbach-Alsenborn

„Nicht belastbar? Nicht willkommen?“


Ableismus gegen Menschen mit seelischen Krisen, Hindernissen oder Traumafolgen – und was sich ändern muss


Inklusion klingt gut. Viele sprechen davon. Es geht um Barrierefreiheit, Teilhabe und darum, dass alle dazugehören dürfen. Doch oft sind damit nur Menschen mit sichtbaren Behinderungen gemeint: Rollstuhlfahrer*innen, Menschen mit Down-Syndrom oder Sinnesbeeinträchtigungen. Was meist ausgeklammert oder verdrängt wird: Auch Menschen, die seelische Verletzungen oder Hindernisse mit sich tragen, werden ausgeschlossen – im Alltag, in der Medizin, in der Politik. Dabei gehen solchen Krisen meist tiefe Erfahrungen voraus: Gewalt, Überforderung, Missachtung, ein Mangel an Sicherheit oder Bindung. Niemand „ist einfach so“ in einer Krise. Und niemand sucht sich aus, was das Leben mit einem macht.


Viele Menschen haben gelernt, mit seelischem Schmerz zu leben – mit Angst, Trauer, Erschöpfung oder innerer Unruhe. Doch statt Mitgefühl erfahren sie Ablehnung. Ihnen wird unterstellt, sie seien nicht belastbar, zu kompliziert oder unzuverlässig. Sie müssen sich erklären, rechtfertigen, beweisen – und werden trotzdem nicht ernst genommen. So entsteht eine zweite Wunde": Nicht die Krise selbst tut am meisten weh, sondern der Umgang der Gesellschaft damit.


Unsere Gesellschaft erwartet Stärke. Wer funktioniert, wird gelobt – wer stolpert, wird aussortiert. Seelische Krisen passen nicht in diese Logik. Wer spürt, zweifelt, trauert oder sich schützt, gilt schnell als schwierig. Dabei ist das, was viele als Schwäche abwerten, oft der Versuch, mit Unerträglichem klarzukommen. Der Rückzug, der Wutausbruch, das Chaos – all das kann ein Weg sein, sich selbst zu retten, wo andere versagt haben.


Wer sich in einer seelischen Krise befindet, braucht Sicherheit, Verständnis und echte Begleitung. Doch oft passiert das Gegenteil. Die Polizei wird gerufen – und reagiert mit Härte statt mit Schutz. Ein tragischer Fall war 2022 in Dortmund, als der 16-jährige Mouhamed Dramé während einer seelischen Krise von der Polizei erschossen wurde – obwohl er Hilfe gebraucht hätte. Solche Fälle zeigen, wie gefährlich es werden kann, wenn Systeme nicht auf menschliche Ausnahmesituationen vorbereitet sind und seelische Krisen mit Waffen statt mit Verständnis beantwortet werden. Ob ein Polizist öffentlich abfällig über einen Rollstuhlfahrer spricht oder Menschen mit Trauma-Erfahrung in Behörden als „nicht glaubwürdig“ gelten – es ist derselbe institutionelle Ableismus. Die Formen unterscheiden sich. Die Entwertung bleibt dieselbe.


In Krankenhäusern werden körperliche Beschwerden übersehen, sobald bekannt ist, dass jemand als auffällig oder  „psychisch vorbelastet“ gilt. In Behörden wird Menschen mit seelischen Verletzungen oft nicht zugetraut, über ihr eigenes Leben zu entscheiden. So wird nicht nur über den Kopf hinweg entschieden – es wird erneut entwürdigt.


Selbst dort, wo über Inklusion gesprochen wird, sind Menschen mit Krisenerfahrungen oder Traumafolgen kaum sichtbar. Wer emotional reagiert, gilt als nicht sachlich. Wer Pausen braucht, als nicht belastbar. Wer seine Geschichte erzählt, als zu nah dran. Dabei wären genau diese Stimmen wichtig – gerade, wenn es darum geht, Gesellschaft gerechter und menschlicher zu gestalten.


Was also muss sich ändern? In der Gesellschaft braucht es ein Klima, in dem es erlaubt ist, zu fühlen. Menschen mit seelischen Krisen oder Traumafolgen sollen nicht bewertet, sondern begleitet werden. Das beginnt bei der Bildung. Schulen und außerschulische Angebote sollten emotionale Kompetenzen, Trauma-Wissen und Vielfalt stärker vermitteln. Auch öffentlich geförderte Kampagnen müssen zeigen, dass Barrieren nicht nur Treppen sind – sondern auch Vorurteile, Scham und Unsichtbarkeit. Medien tragen ebenfalls Verantwortung: Sie dürfen seelisches Leiden nicht dramatisieren oder mit Gewalt gleichsetzen. Öffentliche Orte, etwa Verwaltungen oder Kulturzentren, sollten traumasensibel gestaltet sein – mit Rückzugsräumen, achtsamer Sprache und offener Haltung.


Institutionen wie Polizei, medizinische Einrichtungen oder Ämter haben eine besondere Verantwortung. Sie sollen Menschen helfen, nicht traumatisieren. Dafür brauchen Polizist:innen, medizinisches Personal und Verwaltungskräfte verpflichtende Schulungen zu Trauma, zu seelischer Vielfalt und zu gewaltfreier Kommunikation. Es muss unabhängige Beschwerdestellen geben, gerade dann, wenn Menschen schlechte oder gewaltvolle Erfahrungen gemacht haben. In der Medizin darf eine seelische Krise nicht dazu führen, dass körperliche Symptome nicht ernst genommen werden. Eine seelische Behinderung verhindert keinen Tumor und keinen Herzinfarkt. Die Verbindung von Körper und Seele muss anerkannt werden – fachlich und menschlich. Besonders wichtig ist auch: Menschen mit eigener Krisenerfahrung sollten nicht am Rand stehen, sondern als Peer-Begleiter*innen eingebunden werden – ob im Krankenhaus, bei Sozialdiensten oder sogar bei Polizeieinsätzen. Behörden sollten weniger misstrauen und mehr zuhören. Gespräche auf Augenhöhe, echte Mitbestimmung und Respekt vor dem Lebensweg sind Grundvoraussetzungen für Vertrauen.


Auch in der Politik braucht es Veränderung. Politische Räume sind oft nicht gemacht für Menschen, die langsamer arbeiten, Pausen brauchen oder emotional aufgeladen sind. Dabei brauchen wir genau diese Menschen. Parteien, Beiräte und Gremien sollten gezielt Plätze für Betroffene schaffen – und diese nicht nur als „Expert*innen in eigener Sache“, sondern als politische Stimmen ernst nehmen. Sitzungen sollten so gestaltet sein, dass digitale Teilnahme möglich ist, Sprache verständlich bleibt und Rückzugsbedürfnisse respektiert werden. Menschen mit Krisenerfahrung sollten nicht nur über seelische Gesundheit sprechen dürfen, sondern auch zu Themen wie Wohnen, Umwelt, Bildung oder Demokratie. Denn sie erleben diese Themen oft mit besonderer Klarheit – aus ihrer Lebensrealität heraus. Und zuletzt: Förderprogramme der politischen Bildung oder Medienarbeit sollten gezielt Projekte unterstützen, die von Menschen mit seelischen Hindernissen gemacht werden. Nicht als „Therapie“, sondern als politische Praxis.


Zwar gibt es an einzelnen Orten bereits unabhängige Beschwerdestellen oder Peer-Begleitung – doch meist sind diese Angebote auf Modellprojekte beschränkt, schlecht finanziert oder an große Träger gebunden. Was fehlt, ist eine dauerhafte, gesetzlich verankerte Struktur, die Betroffenen wirklich Sicherheit gibt – unabhängig davon, wo sie wohnen oder welchen Status sie haben.


Seelische Krisen sieht man nicht immer – aber sie prägen das Leben. Viele kämpfen jeden Tag für Stabilität, Würde und Sichtbarkeit. Ableismus gegenüber Menschen mit seelischen Hindernissen ist kein Randphänomen. Er zieht sich durch unsere Systeme, unsere Sprache, unsere Politik. Und er ist veränderbar. Wenn wir Inklusion ernst meinen, müssen wir auch diese Form des Ausschlusses benennen – und beenden. Mit klaren Worten. Mit echtem Zuhören. Und mit Strukturen, die nicht nur dulden, sondern einladen.


Wir bekämpfen Ableismus nicht, indem wir Menschen anpassen – sondern indem wir Strukturen verändern. Seit Jahrzehnten versucht das System, Menschen mit Behinderungen passend zu machen für eine Welt, die sie ausschließt. Es hat nicht funktioniert. Es wird auch nicht funktionieren. Inklusion beginnt im Kopf – aber sie bleibt wirkungslos, wenn sie nicht auch in Haltung, Machtverhältnissen und Strukturen gelebt wird. Ableismus ist nicht bloß ein Vorurteil – er ist die hässliche Fratze eines Denkens, das in Institutionen wirkt und in Menschen lebt, die andere abwerten, weil sie nicht genügen.


Inklusion heißt nicht, jemandem etwas „zu gewähren“ oder einen Sonderstatus „zu verleihen“. Inklusion heißt: Alle gehören gleichwertig dazu. Punkt.


© Silvia Meck, Mai 2025

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