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Zwischen Sparpolitik und rechter Rhetorik

Wenn Sozialleistungen unter Druck geraten, droht mehr als nur Kürzung

Ein Hund liegt auf dem Rücken inmitten einer Waldlichtung, vor einem umgestürzten Baum. Die Umgebung wirkt unaufgeräumt, von trockenem Laub und jungen Bäumchen durchzogen. Das Bild symbolisiert Rückzug, Erschöpfung und das Zurückgelassensein – passend zum Text über soziale Ausgrenzung durch Sparpolitik.
Rocky auf Lichtung bei Kaiserslautern

Die Kürzung beginnt nicht im großen Stil.


Sie beginnt damit, dass der Antrag auf Schulbegleitung abgelehnt wird – weil das Budget „ausgereizt“ sei. Damit, dass Menschen mit psychischen Krisen keine psychosoziale Assistenz mehr bekommen, weil die Fachkraftstelle weggefallen ist. Ein junger Mensch mit Behinderung verliert die Assistenz im Alltag – und damit den Weg zur Ausbildung. Die Mutter muss ihren Job kündigen, weil sie niemanden findet, der ihr Kind mit Unterstützungsbedarf betreut. Und die Familie, die bislang mit Mühe ihren demenzkranken Vater zuhause gepflegt hat, steht plötzlich ohne Entlastung da – weil der Pflegedienst keine Fahrtpauschalen mehr bekommt.


Was als scheinbar logische Sparmaßnahme beginnt, wird schnell zum Kostenfaktor: Langzeitpflege, Klinikaufenthalte, stationäre Einweisungen. Menschen, die in Wohnprojekten eigenständig leben könnten, landen in Heimen, weil ambulante Hilfe gestrichen wurde. Jugendliche, die mit einem Schulbegleiter ihren Abschluss geschafft hätten, brechen ab, werden arbeitslos – und irgendwann „leistungsunwillig“ genannt.

Das alles kostet: nicht nur Geld, sondern Vertrauen, Beziehungen, Lebenszeit.


Und dabei wird übersehen: Selbst wenn Menschen durch den Wegfall ambulanter Hilfen in stationäre Einrichtungen gedrängt werden – es gibt diese Plätze gar nicht mehr im nötigen Umfang. Es fehlen Fachkräfte, es fehlen barrierefreie Wohnangebote, es fehlen Ressourcen. Die Vorstellung, man könne einfach Menschen „anders unterbringen“, blendet die Realität aus: Das System ist schon jetzt überlastet.

Wer ambulante Unterstützung kürzt, produziert nicht nur Leid, sondern verstärkt den Druck auf ohnehin überforderte stationäre Strukturen – und schafft Abhängigkeiten, wo Teilhabe möglich wäre.


Diese Realität lässt sich nicht in Haushaltszahlen fassen. Aber sie schlägt sich nieder – in überfüllten Kliniken, in Familien am Rand der Erschöpfung, in Kindern, die zu früh aufgeben. Und irgendwann auch in der eigenen Nachbarschaft.



Eingliederungshilfe als Sparziel?


In der Fragestunde des Bundestags am 5. Juni wurde deutlich: Die Bundesregierung verteidigt die Eingliederungshilfe als wichtigen Bestandteil sozialer Teilhabe – doch von Seiten der CDU und kommunaler Spitzenverbände mehren sich Forderungen nach einer „kritischen Überprüfung“ der steigenden Ausgaben. Friedrich Merz bezeichnete die jährlichen Steigerungen als „nicht mehr akzeptabel“.


Die Lebenshilfe und andere Verbände reagierten mit scharfer Kritik. Es sei unerträglich, dass Menschen mit Behinderungen erneut zur haushaltspolitischen Verfügungsmasse würden. Auch Bundestagsabgeordnete wie Corinna Rüffer (Grüne) warnten: Wer an der Eingliederungshilfe spare, gefährde grundlegende Rechte.


Und genau das ist der Kern der Debatte: Was hier zur Disposition steht, betrifft nicht nur einzelne Leistungen, sondern elementare Schutzansprüche – rechtlich garantiert durch das Grundgesetz und die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Die Würde des Menschen (Art. 1 GG), das Diskriminierungsverbot (Art. 3 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 GG), der Schutz der Familie (Art. 6 GG) und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) sind keine Wohlfühlfloskeln, sondern Verfassungsrecht. Werden Unterstützungsleistungen gekürzt, bedeutet das oft: keine Teilhabe, keine Bildung, keine eigenständige Lebensführung.


Auch die UN-BRK, die seit 2009 in Deutschland gilt, verpflichtet klar: Inklusion muss sich im Alltag bewähren – in Schule, Arbeit, Wohnen, Gesundheit. Artikel 19, 24, 27 und 28 garantieren das explizit. Doch wenn Menschen ihre Assistenz verlieren, Schulbegleitung abgelehnt wird oder ambulante Hilfen wegbrechen, werden diese Rechte nicht mehr gewahrt – sondern systematisch eingeschränkt. Was als Verwaltungsroutine erscheint, ist in Wahrheit ein politischer Eingriff in die Grundlagen von Gleichheit, Selbstbestimmung und sozialem Schutz.



Bürgergeld als Feindbild


Gleichzeitig heizt die Union die Debatte um das Bürgergeld weiter an. CDU-Generalsekretär Linnemann forderte einen „Paradigmenwechsel“: Menschen, die „nicht mitwirken“, sollten sanktioniert oder ausgeschlossen werden. Die Debatte rückt zunehmend von einer Existenzsicherung hin zu einem System der Kontrolle und Disziplinierung.


Diese Entwicklungen treffen vor allem Menschen, die ohnehin unter mehrfacher Belastung leben: Menschen mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen, psychischen Krisenerfahrungen, Armut und Ausgrenzung. Für viele von ihnen ist das Bürgergeld kein „bequemer Sozialstaat“, sondern der letzte Anker.



Der gesellschaftliche Kontext: autoritäre Versuchung


Was wie eine fiskalpolitische Debatte erscheint, ist in Wirklichkeit auch eine kulturelle Kampfansage:

Wert und Würde des Einzelnen werden zunehmend an Leistungsfähigkeit geknüpft. Wer „nicht genug beiträgt“, wird infrage gestellt. Diese Rhetorik ebnet den Weg für autoritäre Muster – sie erinnert an vergangene Zeiten, in denen Menschen als „unproduktiv“ gebrandmarkt und entrechtet wurden.


Wenn Bürgergeld und Eingliederungshilfe zur Projektionsfläche werden, verschiebt sich der politische Diskurs:

– Von Solidarität hin zu Disziplinierung

– Von Inklusion hin zur Spaltung

– Von Menschenrechten hin zu Leistungserwartungen



Was auf dem Spiel steht


Das ist kein technisches Reformprojekt.

Es geht um Grundrechte, um Menschenwürde – und darum, was eine Gesellschaft bereit ist zu schützen.


Wenn Eingliederungshilfe zur Verhandlungsmasse wird und Bürgergeld zum Feindbild, steht mehr auf dem Spiel als Zahlen im Haushalt.

Dann steht zur Debatte, wer als Teil dieser Gesellschaft gilt – und wer nicht.


Was heute unter dem Schlagwort „Kostenkontrolle“ diskutiert wird, bedeutet morgen konkret:

weniger Assistenz, weniger Teilhabe, weniger Selbstbestimmung.

Mehr Kontrolle, mehr Misstrauen, mehr Sanktionen.

Mehr Menschen, die durch das Raster fallen – nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil sie nicht dürfen, nicht können oder nicht ins gewünschte Bild passen.


Die Folgen zeigen sich nicht sofort. Aber sie kommen.

Mehr Wohnungsverlust, mehr psychische Krisen, mehr Menschen, die auf der Straße landen.

Mehr Gewalt, mehr Wut, mehr Stimmen für jene, die einfache Antworten versprechen – und damit das zerstören, was an sozialem Zusammenhalt noch trägt.

Was als „Sparpolitik“ verkauft wird, endet oft in neuen Kosten – finanziell, sozial und moralisch.


Es sind diese Entwicklungen, die den gesellschaftlichen Kompass verschieben.

Wenn Schutz durch Leistung ersetzt wird, wird Würde verhandelbar.

Wenn Teilhabe zum Luxus wird, kippt die Demokratie.


Noch lässt sich dieser Kurs korrigieren.

Aber nur, wenn Widerspruch laut wird.

Nicht abstrakt, sondern konkret.

Nicht irgendwann, sondern jetzt.


Und wer meint, das sei übertrieben, sollte sich erinnern:

Auch in der Geschichte begann Ausgrenzung nicht mit Gewalt, sondern mit Verwaltungsakten.

Mit dem Entzug von Unterstützung, mit der Behauptung: „Das ist zu teuer.“

Was dann folgte, lässt sich nicht eins zu eins übertragen –

aber die Muster ähneln sich, die Sprache verschiebt sich, die Logik bleibt erschreckend vertraut.


Wer ambulante Hilfen streicht, treibt Menschen in Einrichtungen, die es weder personell noch strukturell gibt.

Wer Teilhabe durch Kontrolle ersetzt, zementiert Abhängigkeit.

Und wer Leistung über Würde stellt, spielt mit dem Fundament der Demokratie.


Die Frage ist nicht nur: Wie konnte das passieren?

Sondern auch: Was ist das politische Ziel hinter all dem – bewusst oder unbewusst?

Und weiter: Wollte man, dass es passiert?


Am Ende steht mehr als ein Sparhaushalt zur Debatte.

Es geht um das Menschenbild einer Gesellschaft – und um die Frage, welche Zukunft sie für sich selbst wählt.


© Silvia Meck, 09. Juni 2025

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