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Kein Schlussstrich

Von Buchenwald nach Leipzig – ein persönlicher Weg durch Geschichte und Verantwortung



Wildblumenwiese vor dichtem Wald. Einzelne gelbe und violette Blüten ragen aus dem grünen Gras. Die Szene wirkt friedlich – und steht im Kontrast zum historischen Ort.
Wildblumenwiese in Weimar

Bevor ich zur Tagung „50 Jahre Psychiatrie-Enquête“ nach Leipzig aufgebrochen bin, habe ich einen kurzen Halt eingelegt. Ganz bewusst - an einen Ort, an dem Geschichte nicht diskutiert, sondern gespürt wird.

Die Straße dorthin trägt den Namen Blutstraße. Sie führt durch einen Wald, ein Ort an dem ich sonst Kraft tanke. Es singen Vögel und das Licht fällt friedlich durch die Baumkronen. Dennoch beschleicht mich ein Gefühl das ich nicht in Worte fassen kann.


Der Name „Blutstraße“ zur Gedenkstätte Buchenwald ist kein offizieller Straßenname. Der Name steht symbolisch für das Blut, das beim Bau vergossen wurde.


Ab 1938 ließ die SS diese von KZ-Häftlingen unter Zwang bauen – unter schwersten Bedingungen, mit einfachsten Mitteln, oft bis zum Tod, um Materialtransporte zum Lager zu ermöglichen.



Leere Orte und laute Stille


Unterhalb des Lagers lagen einst  die SS-Führersiedlung – wo früher Villen standen, ist heute alles überwuchert, verschwunden. Nur ein paar Stufen, ein Schild mit einem Foto von 1943. Damals: Steinmauern, Balkone, herrschaftliche Häuser. Orte der Macht – direkt unterhalb des Ortes der Vernichtung. Heute: von der Natur zurückerobert, aber nicht vergessen.


Ich gehe weiter. Komme am SS-Falkenhof vorbei – einst Tiergehege und Repräsentationsorte. Errichtet auf Befehl vvon SS-Chef Heinricht Himmler. Später Haftstätte für prominente französische Politiker.

Und dann das Aschegrab. Hier, zwischen 1944 und 1945, kippte man nachts in Säcken die Asche der Ermordeten in ein Erdloch. Ein „Teufelsloch“, wie es hieß. Das sogenannte Aschegrab unterhalb des SS-Falkenhofs war lange Zeit in Vergessenheit geraten. Erst in den 1960er Jahren wurde es wiederentdeckt und als Gedenkort benannt. Heute erinnert dort ein schlichtes Schild mit dem Wort „MEMENTO“ an die tausenden Häftlinge, deren Asche die SS dort heimlich entsorgte – ein Ort der Stille und der späten Anerkennung des Grauens.


An der Gedenkstätte selbst konnte man einen Film ansehen. Sehr eindrücklich machte mir dieser nochmals das Grauen bewusst und lässt mir hier und da frösteln. Zeitzeugen berichten davon, wie sie bei der Ankunft erniedrigt, geschlagen, rasiert und mit einer Nummer „versehen“ wurden. Das System war darauf angelegt, Identität zu brechen – nicht nur physisch, sondern auch psychisch.

Hunger, Krankheiten, Kälte, Schläge – der Alltag war vom Überleben geprägt. Besonders im sogenannten kleinen Lager herrschten katastrophale Zustände, es war ein Ort des Elends innerhalb des Lagers.

Häftlinge wurden an Firmen „verliehen“, u. a. für Rüstungsproduktion. Viele starben an den Folgen der Arbeit im Steinbruch oder in Werkstätten. Die SS verdiente daran mit. Es gab gezielte Versuche, etwa mit Fleckfieber oder Hormonen – besonders an Homosexuellen und als „asozial“ stigmatisierten Häftlingen. Diese Experimente waren Teil des ideologischen Vernichtungswahns.

Trotz allem organisierten politische Häftlinge heimlichen Widerstand – mit Kunst, Gedichten, Musik und sogar mit dem Versuch, andere zu schützen. Diese Formen der Selbstbehauptung sind tief beeindruckend.


Das große und das kleine Lager


Das sogenannte „große Lager“ war das zentrale Häftlingslager von Buchenwald und lag oberhalb des später hinzugefügten kleinen Lagers.

Über dem Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald steht „Jedem das Seine“, eine perfide, zynische Verdrehung von Recht und Moral – bewusst von den Nationalsozialisten eingesetzt.

Die SS ließ diesen Satz auf der Innenseite des Lagertors anbringen – so, dass ihn nur die Häftlinge von innen lesen konnten, nicht die Besucher oder Außenstehenden.

„Jedem das Seine.“ Ein Spruch, den viele auch heute noch beiläufig sagen – manchmal zynisch, manchmal resigniert.

Doch hier, über dem Eingangstor von Buchenwald, bekommt dieser Satz ein Gewicht, das mir so nicht bewusst war.

Er war nicht Gerechtigkeit, sondern Zynismus. Nicht Rechtsprinzip, sondern Verachtung.

Und vielleicht sollten wir uns genau deswegen fragen, wie oft wir Sprache benutzen, ohne über ihre Geschichte nachzudenken.


Ich stehe dort, wo einst das sogenannte kleine Lager war. Heute ist hier nichts mehr zu sehen – keine Baracken, kein Zaun, kein Gebäude. Nur eine freie, leicht abgesenkte Fläche am Rand des Geländes. Kaum als das zu erkennen, was es einmal war. - Und genau das macht es so bedrückend.

Das kleine Lager war ein Lager im Lager – abgetrennt, übersehen, abgeschoben. Ursprünglich als Quarantänezone gedacht, wurde es ab 1943 zur „Zwischenstation“ für Häftlinge, die aus anderen Konzentrationslagern hierher gebracht wurden.

In den letzten Kriegsmonaten war das kleine Lager extrem überfüllt. Menschen vegetierten in dreckigen, völlig überbelegten Baracken. Kranke, Sterbende, Tote – dicht an dicht. Es gab kaum Wasser, keine ärztliche Versorgung, unzureichende Nahrung. Der Boden war schlammig, die Luft stickig, der Tod allgegenwärtig.

Was damals kleines Lager hieß, war in Wahrheit ein Ort vollständiger Entmenschlichung. Ein Ort, an dem niemand ankommen und niemand überleben sollte.

Heute ist diese Fläche offen. Die Leere wirkt harmlos – bis man weiß, was hier war. Dann wird sie laut. Schmerzlich laut. Vielleicht ist es gerade das, was diesen Ort so eindrücklich macht:

Dass nichts mehr steht – aber alles bleibt.


Ich betrete das Krematorium. Und ich halte es nicht lange aus. Es ist einer dieser Orte, an denen sich etwas in einem verengt – im Hals, im Brustkorb, im Denken. Ich muss wieder raus.

Hier wurden über 1.100 Menschen nicht nur verbrannt, sondern zuvor im Leichenkeller erdrosselt – systematisch, geplant, verborgen. Der Tod war nicht das Ende, sondern Teil einer industriell organisierten Vernichtung.

Hier haben Worte keinen Platz. Es ist ein Raum, der nicht gesprochen werden will – nur ausgehalten.


Draußen blühen Wildblumen.

Sie wiegen sich im Wind, als sei nichts gewesen.

Es ist schön hier – und genau das ist schwer zu ertragen.

Die Idylle ist nicht falsch. Aber sie steht im Kontrast zu allem, was dieser Ort erzählt.

Man kann den Blick kaum heben, wenn man weiß, worauf man gerade stand.


Waffenproduktion bei Buchenwald


Direkt neben dem Lager, auf dem Ettersberg, entstand ab 1943 das Werk II der Wilhelm-Gustloff-Stiftung – eine Waffenfabrik, in der Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten.

Hier wurden vor allem Gewehre und andere Kleinwaffen für die Wehrmacht gefertigt – unter anderem das Karabiner-Modell 98k. Tausende Häftlinge arbeiteten unter unmenschlichen Bedingungen in den Werkshallen: erschöpft, unterernährt, ständig bedroht.

Die SS verlieh Häftlinge gegen Bezahlung an diese „kriegswichtigen“ Betriebe – ein System der organisierten Ausbeutung, das die Grenze zwischen Lager und Industrie fließend machte. Menschliches Leben wurde verrechnet, wie Material.

Die Gustloff-Werke waren kein Einzelfall. Buchenwald war Teil eines flächendeckenden Systems, in dem Unternehmen wie Siemens, IG Farben oder Topf & Söhne vom Terror profitierten.


Heute ist von den Hallen nichts mehr übrig.


Befreiung und Nachwirkungen


Am 11. April 1945 befreiten sich die Häftlinge mit Unterstützung des US-Militärs selbst. Über 21.000 Menschen überlebten – darunter über 900 Kinder und Jugendliche. Viele starben noch in den Tagen danach, für sie kam die Befreiung spät, der Körper macht nicht mehr mit.

Viele Überlebende fanden nach der Rückkehr in die Gesellschaft kein Gehör.

Was mich besonders bewegt hat: Nach der Befreiung zwang das US-Militär die Weimarer Bevölkerung, das Lager zu zu besichtigen und das muss man sich nicht vorstellen wie heute. Sie wurden vorbeigeführt an den aufgestapelten Leichen. Sie sollten sehen, was direkt vor ihren Augen geschehen war – jahrelang. Die Alliierten konnten nicht glauben, dass „niemand etwas gewusst haben will“.


Und diese Szene im Film hängt mir nach.

Denn auch wenn es unbequem ist:

Nichtwissen schützt nicht vor Verantwortung.

Wegsehen verhindert kein Leid.

Ausblenden beendet kein Unrecht.


Was damals als „nicht gewusst“ bezeichnet wurde, begegnet uns auch heute – in anderer Form:

Wenn Menschenrechte verhandelbar scheinen.

Wenn Faschismus sich in vermeintlich harmlosen Parolen einnistet.

Wenn Gedenken ausgelagert und Erinnerung bagatellisiert wird.

Wenn man lieber schweigt, statt laut zu sagen: Es reicht. Nie wieder.


Nicht vergessen, was nicht sichtbar war


Buchenwald war kein „Euthanasie“-Lager im engeren Sinne. Menschen mit Behinderungen wurden an anderen Orten ermordet – in Grafeneck, Hadamar, Pirna-Sonnenstein. Und doch gehört diese Geschichte hierher. Weil sie Teil desselben menschenverachtenden Systems war.

Auch in Buchenwald waren Menschen inhaftiert, die als „asozial“ oder „arbeitsunfähig“ galten. Das betraf auch viele mit psychischen Erkrankungen, Suchterkrankungen oder geistigen Beeinträchtigungen. Sie wurden aussortiert, ausgegrenzt, ausgenutzt – und haben oft nicht überlebt.

Buchenwald war außerdem Ziel zahlreicher Transporte aus bereits geräumten Lagern im Osten – darunter auch kranke Häftlinge und Kinder. Viele von ihnen wurden weiter in Vernichtungslager wie Auschwitz deportiert.

Anfang April 1945 versuchte die SS, das Lager zu räumen. Etwa 28.000 Häftlinge wurden auf sogenannte Todesmärsche gezwungen – viele von ihnen starben an Hunger, Erschöpfung oder durch Gewalt.

Was man damals „lebensunwert“ nannte, war pure Ideologie. Und dieser Gedanke ist nicht verschwunden.

Ableismus, Behindertenfeindlichkeit, die Bewertung von Leben nach Nützlichkeit – sie alle existieren noch heute.

Die UN-Behindertenrechtskonvention, 2009 in Deutschland ratifiziert, hat eine klare Botschaft:

Alle Menschen haben das Recht auf Leben, Würde, Teilhabe.

Und trotzdem müssen viele auch heute noch um genau das kämpfen.

Was bleibt – und was heute zählt


Ich verlasse das Gelände von Buchenwald mit schweren Gedanken. Nicht, weil ich in der Vergangenheit festhänge – sondern weil ich spüre, wie sehr sie noch in der Gegenwart lebt.


Buchenwald ist vorbei – aber die Muster sind es nicht


Das Sortieren nach Verwertbarkeit. Das Schweigen über Unrecht. Das Reden von „Einzelfällen“. Die Sprache, die entmenschlicht. Der Hass, der wieder salonfähig wird. Wir leben in einer Zeit, in der Faschismus nicht laut marschiert – sondern sich leise zurückschleicht. In Form von Relativierungen, Umdeutungen, Gewöhnung.


Erinnern allein reicht nicht.

Gedenken heißt: Haltung zeigen. Eingreifen. Widersprechen.

Nicht nur, wenn’s laut wird – sondern vor allem, wenn es leise bleibt.


Buchenwald hat mir gezeigt, dass der Bruch mit der Unmenschlichkeit nie abgeschlossen ist.

Er muss jeden Tag neu gelebt werden. Von uns allen!


Lesedauer: ca. 10 Minuten

© Silvia Meck 02. Juni 2025

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