Was bleibt, wenn der Applaus verhallt?
- Silvia Meck
- 4. Juni
- 15 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Juni
Ein persönlicher Rückblick und politischer Weckruf
zur Tagung „50 Jahre Psychiatrie-Enquête – Geschichte erinnern, Gegenwart und Zukunft gemeinsam gestalten“
am 2. und 3. Juni 2025 in Leipzig

Vor fünfzig Jahren begann mit der Psychiatrie-Enquête ein bedeutender Reformprozess in der deutschen Psychiatrie. Und das war bitter nötig. Denn was davor war, kann man kaum anders beschreiben als: systematisches Wegsperren.
Menschen wurden verwahrt, nicht begleitet.
Die großen Landeskrankenhäuser waren überfüllt. Es herrschte Enge und Überforderung, fehlende Privatsphäre und ein Mangel an Würde bestimmten den Alltag. Medikamente dienten oft der Ruhigstellung, nicht der Heilung. Stigmatisierung, Isolation und lebenslange Ausgrenzung waren Realität. Viele Patient:innen lebten in Mehrbettzimmern oder auf Fluren - ohne Privatsphäre, oft ohne echte Zuwendung. Es fehlte an Menschenwürde. Menschen mit seelischen Krisen wurden stigmatisiert, isoliert und häufig ihr Leben lang weggeschlossen.
Manches erinnerte noch an die NS-Zeit – nicht nur strukturell, sondern auch personell. Viele der damals Verantwortlichen arbeiteten nach 1945 einfach weiter. Die Psychiatrie war im Nationalsozialismus ein Ort des Unrechts:
Zwangssterilisationen, systematische Vernachlässigung, sogenannte Euthanasieprogramme. Viele Strukturen, viele Haltungen, viele Denkweisen blieben erhalten. Dass dieses Kapitel nach 1945 kaum aufgearbeitet wurde, ist ein Skandal – und macht deutlich, wie dringend ein radikaler Neuanfang nötig war.
Die Enquête-Kommission 1975 war dieser notwendige Bruch - ein Wendepunkt.
Zum ersten Mal wurden die Missstände klar und deutlich benannt – verbunden mit einer neuen Haltung: raus aus den Anstalten, hinein in die Gesellschaft.
Das war wegweisend – und ist es in Teilen bis heute. Es wurden umfassend Daten erhoben und Empfehlungen ausgesprochen, die noch heute nachwirken.
Die Enquête setzte neue Impulse – hin zu mehr Ambulantisierung, also der Behandlung und Begleitung außerhalb großer Kliniken, mitten im Lebensumfeld der Menschen. Gemeindepsychiatrische Versorgung meint eine Hilfe, die nah dran ist. In der Nachbarschaft, im Alltag, im Sozialraum. Mehr Rechte für Patient:innen. Es war ein Aufbruch – getragen von wenigen mutigen Politiker:innen und dem Widerstand vieler Betroffener, die nicht länger schweigen wollten.
Die Tagung – Stimmen, Widersprüche und politische Zumutungen
Nach der einführenden Rückschau ging es auf der Tagung schnell ins Eingemachte. Die Vorträge und Podien waren vielfältig - von fachlichen Analysen über historische Einordnungen bis hin zu klaren politischen Appellen. Und doch wurde eines deutlich: Die Kluft zwischen Wissen und Handeln ist geblieben.
Ein zentrales Thema der Tagung war die institutionelle Trägheit – eine Trägheit, die nicht nur verwaltet, sondern verhindert. Viele Beiträge machten deutlich: Zwar gibt es inzwischen eine Vielzahl an Gesetzen, Programmen und Leitlinien – von der Pflegeversicherung über das Bundesteilhabegesetz (BTHG) bis zur Eingliederungshilfe. Doch anstatt echte Veränderung zu ermöglichen, scheinen sie häufig neue Bürokratiegebäude zu errichten, in denen Menschen und ihre Bedarfe erneut verschwinden. Diese strukturelle Starre erleben viele als zermürbend – weil sie festhält, statt zu verändern.
Das Bundesteilhabegesetz – einst als großer Fortschritt gefeiert – wird von vielen als Papiertiger erlebt. Es verspricht Teilhabe, doch in der Praxis begegnen Betroffene vor allem Formularfluten, Gutachtenpflichten und einer Misstrauenskultur. Wer Unterstützung braucht, muss beweisen, dass er oder sie „genug kaputt“ ist. Recovery oder Selbstermächtigung? Nicht vorgesehen. Statt Ressourcenorientierung – also dem Blick auf Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten – dominiert ein defizitgestütztes System, das auf das achtet, was vermeintlich nicht geht. Das hält Menschen klein, statt sie zu stärken.
Auch die Logik der Zuständigkeiten wurde kritisch beleuchtet: Wer Hilfe braucht, wird oft zwischen Leistungsträgern hin- und hergeschoben – Eingliederungshilfe, Krankenkasse, Sozialamt, Jobcenter. Jede Stelle prüft neu, verweist weiter oder fordert zusätzliche Nachweise. Dahinter steckt selten böser Wille, sondern eine Struktur, die auf Abgrenzung und Haushaltslogik basiert. Menschen werden nicht als Ganzes gesehen, sondern als Zuständigkeitsfälle.
Eine Teilnehmerin formulierte es so:
„Ich brauche keine Maßnahme – ich brauche jemanden, der mit mir schaut, was ich wirklich brauche. Aber dafür ist niemand zuständig.“
In vielen Regionen hängt gute Versorgung davon ab, wie stark lokale Akteur:innen sind, wie gut sie vernetzt sind oder wie viel politische Rückendeckung sie bekommen. Statt klarer Standards erleben wir ein System, das oft vom Zufall abhängt – oder davon, wie gut jemand für sich kämpfen kann.
Das führt zu massiven Ungleichheiten. Während in einigen Kommunen gemeindepsychiatrische Verbünde gut funktionieren, herrscht anderswo eine regelrechte Versorgungswüste.
Die Frage, die immer wieder aufgeworfen wurde: Wollen wir ein Hilfesystem, das sich um sich selbst dreht – oder eines, das sich konsequent an den Lebensrealitäten der Menschen orientiert?
Als Genesungsbegleiterin weiß ich, wie sehr Menschen unter dieser strukturellen Kälte leiden. Viele erleben nicht nur die Krise der Seele, sondern die Krise der Systeme. Sie erzählen mir von abgelehnten Anträgen, von Hilfen, die an der Lebenswirklichkeit vorbeigehen, von Unterstützungsangeboten, die an starren Stundenkontingenten und falschen Zuständigkeiten zerbrechen. Oft braucht es nur ein bisschen Spielraum, ein bisschen Vertrauen, ein bisschen Menschlichkeit – doch genau daran fehlt es.
Diese Trägheit betrifft nicht nur Leistungen – sie betrifft auch Beteiligung. Zwar werden Selbstvertretung und Mitbestimmung heute in fast jedem Konzeptpapier erwähnt. Doch wenn es konkret wird, endet die Beteiligung oft an der Schwelle zur Entscheidungsmacht. „Man lässt uns reden, aber nicht mitentscheiden.“
Gremien, runde Tische, Fachbeiräte existieren – aber oft ohne Stimmrecht, ohne Rückkopplung, ohne echte Zuständigkeit. So können Betroffene zwar Statements abgeben, aber selten Strukturen verändern. Viele erleben das in trialogischen Projekten oder Betroffenenräten. Besonders frustrierend ist, dass sich Beteiligung oft nicht auf Augenhöhe abspielt – sondern in einem Klima, das von Fachvokabular, Zeitdruck und formalen Hürden dominiert wird. Viele Beteiligungsformate folgen dem Prinzip der kontrollierten Öffnung: ein gekipptes Fenster für frische Luft, aber der Raum bleibt verschlossen. Es wird gefragt – aber nicht wirklich zugehört.
Dabei geht es längst nicht mehr um Einladung – sondern um Teilhabe als Grundrecht. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die Deutschland 2009 ratifiziert hat, verpflichtet dazu, Menschen mit Behinderung – dazu zählen auch psychosoziale Beeinträchtigungen – in allen sie betreffenden Angelegenheiten einzubeziehen. Nicht nur symbolisch, sondern wirksam.
Beteiligung verändert nicht nur Strukturen, sondern auch Menschen. Wenn sie mitentscheiden, mitgestalten und in ihrer Rolle ernst genommen werden – nicht als Erfahrungswissen „am Rande“, sondern als Perspektive auf Augenhöhe – dann entsteht etwas Neues. Dann geht es nicht mehr nur um Hilfe, sondern um gemeinsame Verantwortung.
Doch dafür braucht es Ressourcen. Viele Selbstvertretungsinitiativen kämpfen ums Überleben – sie sind projektgebunden, unterfinanziert, personell überlastet. Beteiligung darf kein Hobby sein. Sie muss strukturell verankert, rechtlich gesichert und finanziell abgesichert sein. Wer Beteiligung ernst meint, muss Macht teilen – nicht nur Räume öffnen.
In der Politik ist Beteiligung oft formalisiert. Es gibt Anhörungen, Beteiligungsprozesse, Dialogformate – aber die Richtung ist häufig schon vorher festgelegt. Es braucht politische Strukturen, die wirklich lernen wollen. Die den Mut haben, sich auch von unbequemen Stimmen irritieren zu lassen. Denn Selbstvertretung ist nicht immer bequem – aber sie ist demokratisch notwendig.
Eine Teilnehmerin sagt es sehr deutlich:
„Wir brauchen nicht mehr Gremien – wir brauchen mehr Glauben daran, dass unsere Stimme zählt.“
Fachkräfte zwischen Verantwortung und Haltung.
Ein weiterer zentraler Diskussionspunkt der Tagung war die Rolle von Fachkräften im psychiatrischen Hilfesystem – ob mit Studium, Ausbildung oder aus gelebter Erfahrung. Denn auch wenn alle in diesem Feld Verantwortung tragen, bringen sie unterschiedliche Perspektiven und Haltungen mit – historisch gewachsen, unterschiedlich sozialisiert, verschieden eingeordnet im System.
Für wen arbeiten wir eigentlich? Für das System? Oder für die Menschen darin?
Gerade Genesungsbegleiter:innen schöpfen ihr Wissen aus dem eigenen Erleben. In der Weiterbildung entsteht daraus mehr als individuelle Expertise – es entsteht ein geteiltes, reflektiertes „Wir-Wissen“, das andere ermutigen und begleiten kann.
Viele von ihnen bringen eine Haltung mit, die stärker recovery-orientiert, politischer und kritischer gegenüber bestehenden Strukturen ist.
Und auch sie stoßen im Alltag auf dieselben Spannungsfelder wie andere Professionelle – oft sogar verschärft durch Rollenkonflikte und strukturelle Machtungleichgewichte.
Viele Beiträge machten deutlich, dass Berufe – ob Pflege, Sozialarbeit, Psychotherapie oder ärztliche Begleitung – mehr brauchen als methodische Kompetenz. Gefordert ist eine klare Haltung: zu Macht, zu Autonomie, zu Menschenrechten. Denn in einem System, das historisch gewachsen ist aus Kontrolle, Verwahrung und Stigmatisierung, kann Neutralität schnell zum Mitwirken werden.
„Psychiatrie darf nicht Dienstleister der Ordnungspolitik sein.“
Wie oft wird psychiatrisches Handeln genutzt, um „Störungen“ im öffentlichen Raum zu regulieren?
Wie oft müssen Fachkräfte deeskalieren, was politisch verursacht ist – etwa Armut, Vereinsamung oder Wohnungsnot?
Und wie oft schweigen in der Psychiatrie Tätige, obwohl sie wissen: Das, was hier geschieht, ist nicht heilend – sondern haltend. In einem System, das längst selbst in der Krise ist.
„Psychiatrie muss politischer werden – weil sie nah an den Bruchstellen unserer Gesellschaft arbeitet.“
Dieser Satz blieb mir besonders in Erinnerung. Er beschreibt eine Psychiatrie, die nicht im luftleeren Raum agiert, sondern mitten in gesellschaftlichen Dynamiken steht: Armut, Migration, Rassismus, Diskriminierung, Gewalt.
Es wurde die Frage gestellt, ob sich Fachkräfte wirklich bewusst sind, wie viel sie in ihrer Rolle mitgestalten – oder eben stabilisieren. Fachlichkeit ohne Haltung ist gefährlich. Wer Menschen nur nach Diagnose behandelt, vergisst, dass jede Geschichte eingebettet ist in soziale und politische Zusammenhänge.
Recovery-orientierte Arbeit bedeutet nicht nur, individuelle Wege zu fördern – sondern auch, sich solidarisch an die Seite derer zu stellen, die immer wieder ausgeschlossen werden. Es macht einen Unterschied, ob mir jemand auf Augenhöhe begegnet – oder ob ich als Fall, als Maßnahmenteilnehmerin, als Problem, Aufgabe oder gar als Risiko eingeordnet werde.
Haltung zeigt sich nicht in Hochglanzkonzepten, sondern in kleinen Momenten:
Wird mir zugehört? Werde ich ernst genommen? Darf ich entscheiden?
Haltung hat Konsequenzen.
Wer recovery-orientiert arbeitet, muss manchmal auch widersprechen: Kolleg:innen, Vorgesetzten, Institutionen. Das kostet Kraft – aber es ist notwendig.
Eine Fachkraft, die strukturelle Gewalt erkennt und benennt, verändert mehr als zehn neue Tools.
„Wir brauchen weniger neue Konzepte – wir brauchen mehr Mut, das Richtige zu tun.“ Zitat eines Teilnehmers.
Die Perspektive der Angehörigen – zwischen Belastung, Engagement und Ausgrenzung
Inmitten der vielen Stimmen auf der Tagung wurde auch die Rolle der Angehörigen sichtbar – und das völlig zu Recht. Denn wer ein psychisch erkranktes Familienmitglied begleitet, lebt oft ein Doppelleben zwischen Sorge, Hilflosigkeit, Loyalität und institutionellen Grenzerfahrungen. Angehörige sind emotionale Anker, stille Helfer:innen und in vielen Fällen auch Systemlots:innen – und dennoch: Sie bleiben häufig marginalisiert, werden oft nicht mitgedacht oder bekommen wenig Aufmerksamkeit.
Mehrere Redebeiträge machten deutlich, wie sehr Angehörige selbst unter der Fragmentierung der Versorgung leiden. Wer Hilfe sucht – für Tochter, Partner, Bruder oder Mutter – wird oft mit Datenschutz, Zuständigkeitsverweisen oder schlichter Überforderung konfrontiert. Angehörige berichten, dass sie über Krisen nicht informiert werden, weil Einwilligungen fehlen – aber gleichzeitig als selbstverständlich verfügbar gelten, wenn es um Betreuung, Begleitung oder Krisenintervention geht.
Angehörige leben oft zwischen Schuldgefühlen und Systemkritik. Sie erleben hautnah mit, wie ihr nahestehender Mensch leidet – und wie ein Hilfesystem ihn oder sie zusätzlich belastet. Viele Angehörige stehen jahrelang bereit, springen ein, wenn Angebote versagen, kämpfen für Therapieplätze, Anträge, Gerechtigkeit. Dabei stoßen sie selbst an psychische und körperliche Grenzen – ohne dafür ausreichend gesehen zu werden.
Auf der Tagung wurde deutlich: Auch Angehörige haben ein Recht auf Beteiligung – nicht nur als Unterstützende, sondern als Betroffene eigener Art. Denn wer jemanden liebt, der leidet, leidet mit. Das wurde von verschiedenen Redner:innen betont, auch aus Selbsthilfeverbänden und Angehörigenvereinen. Sie forderten eine stärkere strukturelle Einbindung – und mehr Angebote zur Entlastung.
Doch auch kritische Stimmen kamen zu Wort. Einige Psychiatrieerfahrene warnten davor, Angehörigenvertretung automatisch mit Betroffenenbeteiligung gleichzusetzen. Denn Interessen können sich unterscheiden – etwa wenn es um Zwang, Medikationen oder Bevormundung geht. Nicht jede Sorge berechtigt zur Entscheidung über den Willen eines anderen. Diese Spannungen offen anzusprechen, ist kein Affront – sondern Teil eines ehrlichen Trialoges.
Ich sehe beides: Ich sehe Angehörige, die verzweifelt versuchen, Brücken zu bauen – und ich sehe Betroffene, die genau diese Brücken als Bedrohung ihrer Autonomie empfinden. Es braucht Räume, in denen das ausgesprochen und ausgehandelt werden darf. Und es braucht Profis, die begleiten, statt zu polarisieren.
Eine Angehörige verdeutlichte es so:
„Ich wollte immer nur helfen – aber manchmal war meine Hilfe zu viel. Ich musste lernen, meine Tochter nicht zu retten, sondern sie zu begleiten.“
Die Psychiatrie der Zukunft kann nur gelingen, wenn sie auch Angehörige mitdenkt – nicht als Helfer:innen zweiter Ordnung, sondern als Menschen mit eigenen Erfahrungen, Bedürfnissen und Grenzen.
Lichtblicke im Schatten – Peerarbeit, EX-IN und die Versorgungslücke.
Trotz aller Kritik brachte die Tagung auch Hoffnungsmomente – und zwar solche, die nicht aus Konzeptpapieren stammen, sondern aus dem gelebten Alltag. In Workshops und offenen Gesprächsrunden wurde deutlich, wie viel Engagement, Kreativität und Veränderungswille vor Ort existiert – jenseits großer Reformversprechen. Peerarbeit, gemeindepsychiatrische Netzwerke und lokale Projekte zeigten eindrücklich: Es geht auch anders. Nicht perfekt, nicht überall – aber mutig, menschenorientiert und oft erstaunlich wirksam.
Ein Begriff fiel dabei besonders häufig: EX-IN – Experienced Involvement. Dahinter steckt nicht nur ein Qualifizierungsprogramm für Psychiatrieerfahrene, sondern die Haltung, dass Menschen mit eigener Krisenerfahrung Expert:innen in eigener Sache sind – und essenzielles Wissen in die Versorgung einbringen.
EX-IN ist gelebte Peerarbeit – keine symbolische Beteiligung, sondern professionelle Mitwirkung: in Kliniken, in gemeindepsychiatrischen Diensten, in Gremien, in Forschung, in politischer Beratung. Die Bewegung steht für einen echten Perspektivwechsel: Nicht über Menschen reden, nicht nur mit ihnen reden – sondern durch sie mitgestalten lassen.
Ich selbst bin EX-IN Genesungsbegleiterin. Und ich weiß, wie viel Kraft es kostet, sich diesen Platz zu erkämpfen – in einer Landschaft, die uns lange kleinhalten wollte. Aber ich weiß auch, was möglich wird, wenn wir da sind: Vertrauen, Verbindung, Veränderung.
Wo Peerarbeit – und damit EX-IN – konsequent umgesetzt wird, verändern sich Strukturen spürbar. Beziehungen werden horizontaler, Entscheidungsprozesse transparenter. Recovery wird greifbar – nicht als Konzept, sondern als Haltung, die Menschen stärkt, statt sie zu verwalten. In Krisendiensten, in Wohnprojekten, in tagesstrukturierenden Angeboten: Peerarbeit schafft Räume, in denen Erfahrung zählt – und Würde nicht verhandelbar ist.
Doch das alles braucht verlässliche Strukturen – nicht nur gute Absichten. Viele Beiträge auf der Tagung machten deutlich: Peers sind oft prekär beschäftigt, ohne feste Berufsperspektiven, und müssen regelmäßig ihre Rolle erklären oder verteidigen – selbst gegenüber erlernten und studierten Fachkräften. Langfristige Absicherung, tarifliche Eingruppierung, Fortbildungsmöglichkeiten und Supervision sind bislang eher Ausnahme als Regel.
Und ein zentraler Punkt wurde immer wieder betont:
Genesungsbegleiter:innen sind keine Notlösung im Fachkräftemangel. Sie sind kein billiger Ersatz, sondern eine eigenständige, qualifizierte Berufsgruppe mit spezifischem Erfahrungswissen. Ihre Rolle ist nicht kompensatorisch, sondern komplementär – sie ergänzt andere Fachperspektiven um eine existenziell wichtige Dimension: gelebte Erfahrung.
Auf der Tagung wurde klar: EX-IN und Peerarbeit brauchen jetzt politische Klarheit – und das auf mehreren Ebenen. Es reicht nicht, nur auf Bundesregelungen zu hoffen. Denn im föderalen System ist die ambulante psychiatrische Versorgung Ländersache – und genau hier entscheiden sich viele Weichenstellungen: von der Eingruppierung bis zur Finanzierung, von der Anerkennung bis zur strukturellen Verankerung.
Deshalb braucht es bundesweit einen verbindlichen Rahmen – und zugleich konkrete Regelungen auf Landesebene, die EX-IN und Peerarbeit in der ambulanten Versorgung fest verankern. Es braucht tarifliche Eingruppierungen, Zugang zu Supervision und Weiterbildung – und vor allem: den Mut, Rollen und Machtverhältnisse neu zu denken.
Peerarbeit ist keine Konkurrenz, sondern eine notwendige Ergänzung – eine, die Systeme herausfordert und zugleich menschlicher macht.
Auch gemeindepsychiatrische Modelle wurden als Hoffnungsträger benannt. Dort, wo multiprofessionelle Teams – oft ergänzt durch Peers – sozialraumorientiert arbeiten, entstehen tragfähige, niederschwellige Angebote. Besonders in Krisensituationen zeigt sich ihre Stärke: kurze Wege, vertraute Gesichter, keine Eskalation durch Distanz oder Krankenhausroutine. Diese Modelle orientieren sich am Alltag der Menschen – und nicht an der Struktur der Einrichtung.
Und doch bleibt die entscheidende Frage: Wer hört zu – und wer handelt? Zu oft bleiben gute Ansätze lokal verhaftet. Es fehlt an systematischer Förderung, an gesetzlicher Verankerung und an politischem Willen zur Skalierung. Die institutionellen Systeme tun sich schwer mit Innovation – vor allem dann, wenn diese Hierarchien in Frage stellt oder Macht neu verteilt.
Ein Begriff prägte die Tagung besonders eindrücklich: - Versorgungswüste -
Gerade in ländlichen Regionen ist die Lage dramatisch. Psychiatrische Fachärzt:innen sind kaum noch zu finden, Psychotherapeut:innen haben monatelange Wartezeiten, ambulante Hilfen sind ausgedünnt. Menschen, die arm sind, kein Auto haben oder wenig Deutsch sprechen, haben faktisch keinen Zugang zu Unterstützung. Angehörige, die oft noch als stilles Hilfssystem dienen, brechen unter dieser Last zusammen – oder fallen selbst aus.
Die Ursachen sind bekannt: Fachkräftemangel, Zentralisierung, zu geringe Anreize für kreative Versorgung. Und dennoch: Viel zu wenig passiert. Statt flexibler Lösungen gibt es Zuständigkeitsstreitigkeiten. Statt mobiler Krisenteams werden Bettenzahlen verwaltet. Statt Menschen in Not zu begegnen, wird ihre „Maßnahmeneigung“ geprüft.
Als Genesungsbegleiterin sehe ich diese Lücken täglich. Menschen, die auf Hilfen warten – und dabei immer tiefer in die Krise rutschen, oder gerade deshalb in eine Krise geraten. Menschen, deren Versorgung von ihrer Postleitzahl abhängt. Menschen, die aufgeben, weil sie sich vom System, der Gesellschaft nicht gemeint fühlen.
Ein Teilnehmer sagte im Workshop:
„Wir wissen, wie es gehen könnte – aber wir dürfen es oft nicht tun. Das ist der eigentliche Skandal.“
Eine weiter Teilnehmerin sagte:
„EX-IN ist nicht nur Qualifikation – es ist ein Systemtest. Wer Peers wirklich einbindet, verändert die ganze Haltung der Einrichtung.“
Forschung – zwischen Anspruch, Erwartung und Verantwortung
Auch die Rolle der Forschung wurde auf der Tagung nicht ausgespart – wenn auch eher leise und zurückhaltend. Es wurde deutlich: Forschung spielt eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, psychiatrische Versorgung weiterzuentwickeln, Bedarfe sichtbar zu machen und politische Entscheidungen zu untermauern.
Gleichzeitig wurde spürbar, wie sensibel dieser Bereich ist – besonders für Betroffene. Denn allzu oft fühlen sich psychiatrieerfahrene Menschen nicht als aktive Subjekte von Forschung, sondern als Objekt von Studien. Das Verhältnis ist belastet durch Erfahrungen mit fragwürdigen Datennutzungen, unverständlichen Ergebnissen oder dem Gefühl, dass ihre Lebensrealität in Tabellenform gepresst wurde – aber nicht wirklich verstanden.
Ja, wir brauchen Wissen. Ja, wir brauchen fundierte Daten. Aber Forschung darf nicht von oben herab analysieren, was Menschen in ihrer Tiefe bewegt. Sie muss sich selbst befragen: Wem dient sie? Wer wird gehört? Und wer wird zitiert, aber nicht eingeladen?
Auf der Tagung wurde auch sichtbar, dass es anders geht. Erste Ansätze partizipativer Forschung, in denen Betroffene nicht nur Befragte, sondern Co-Forschende sind, wurden diskutiert – zurückhaltend, aber spürbar interessiert. Hier liegt Potenzial: für einen neuen Forschungsstil, der nicht nur nach Zahlen fragt, sondern nach Bedeutung.
Was allerdings fehlte – und das wurde mehrfach angesprochen – war eine systematische Rückmeldung über laufende oder abgeschlossene Forschungsprojekte. Besonders im Bereich Peerarbeit und Versorgungsgerechtigkeit wünschen sich viele Transparenz: Was wird erforscht? Welche Fragen werden gestellt – und welche nicht? Und wie können Ergebnisse in die Praxis überführt werden?
Ein Teilnehmer formulierte es so:
„Wir brauchen Forschung, die nicht nur dokumentiert, was ist – sondern auch fragt, was sein sollte.“
⸻
Was bleibt – und was kommen muss
Persönlicher Ausblick und politische Forderungen
Die Tagung war für mich kein Nostalgietreffen. Sie war Erinnerung, Irritation und Inspiration zugleich. Ich habe vieles wiedergefunden, was mich seit Jahren umtreibt – und vieles gehört, was noch nicht gesagt wurde. Ich habe Menschen getroffen, die kämpfen. Und Systeme erlebt, die bremsen. Ich habe gespürt: Wir sind viele – aber wir werden noch zu selten gehört.
Was sich ändern muss
Dass Teilhabe kein Gnadenakt mehr ist – sondern ein Menschenrecht.
Dass Genesungsbegleitende (EX-IN) nicht um ihren Platz bitten müssen – sondern selbstverständlich dazugehören.
Dass Versorgung nicht länger Lücken verwaltet – sondern Leben ermöglicht.
Dass studierte und gelernte Fachkräfte Haltung zeigen – und nicht Neutralität mit Professionalität verwechseln.
Dass Forschung sich rückbindet – an die, über die sie spricht.
Dass Politik zuhört – nicht nur, wenn es ins Konzept passt.
Dass Resilienz nicht individualisiert wird – sondern als kollektive Aufgabe verstanden wird.
Dass Kommunen als Orte der Veränderung erkannt – und befähigt werden, Handlungsspielräume zu nutzen.
Wir haben viel erreicht – aber nichts ist selbstverständlich. Und ich nehme mir vor, weiter unbequem zu bleiben. Denn wer nicht stört, verändert nichts.
Erfahrungsträger:innen – sind keine Randnotizen der Reformgeschichte.
Krisen gehen uns alle an – und Resilienz ist Gemeinschaftsaufgabe
Was mich als kommunalpolitisch Engagierte besonders bewegt hat: Vieles, was auf der Tagung kritisch benannt wurde – von Versorgungslücken bis symbolischer Beteiligung – lässt sich nicht nur auf Landes- oder Bundesebene lösen, sondern ganz konkret bei uns vor Ort.
Psychische Krisen entstehen nicht aus dem Nichts. Sie können jeden Menschen treffen – unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft und sie führen häufig zu einer Diagnose. Manchmal ist es ein einzelnes Ereignis, das alles kippt: ein Todesfall, ein Unfall, Gewalt oder Verlust. Doch viel häufiger beginnt eine Krise leise – und sozial.
Nicht nur „das eine Trauma“ führt in den Abgrund, sondern: Einsamkeit, die sich über Jahre einschleicht, Armut, die das Leben diktiert, Wohnungsnot, die keine Sicherheit zulässt, Arbeitslosigkeit, die nicht nur das Konto, sondern die Würde angreift, Existenzielle Ängste, die sich nicht mit Therapie, sondern nur mit Gerechtigkeit lösen lassen.
Krisen sind oft Ausdruck gesellschaftlicher Brüche – nicht individueller Schwächen.
Darum reicht es nicht, über Diagnosen und Versorgung zu sprechen.
Wir müssen auch darüber reden, was Menschen schützt, bevor sie krank werden.
Und wir müssen fragen: Wo können wir anfangen, bevor es zu spät ist?
Ein Beispiel ist die Resilienzinitiative Pfalz, die genau hier ansetzt: Sie macht deutlich, dass seelische Gesundheit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist – und dass Kommunen Handlungsspielräume haben.
Sie lädt ein, neue Wege zu gehen: Präventiv. Sozialraumorientiert. Miteinander.
Wenn wir Peerarbeit, EX-IN, Beteiligung und Teilhabe wirklich wollen, müssen wir sie lokal ermöglichen. Nicht irgendwann. Jetzt!
Als politisch engagierte Person weiß ich: Vieles hängt nicht am ob, sondern am wer will. Wenn die Kommune will – dann geht was. Aber sie braucht Druck, Anregung und manchmal auch eine Erinnerung daran, dass Teilhabe kein Luxus ist – sondern Pflicht.
So vieles, was wir auf der Tagung diskutiert haben – Versorgungslücken, Beteiligung, Peerarbeit – entscheidet sich nicht erst in Bundesgesetzen, sondern direkt vor Ort. In Städten und Landkreisen, in Sozialausschüssen, bei freien Trägern, in Kommunalverwaltungen. Die Kommune ist kein Nebenschauplatz – sie ist das Herzstück einer inklusiven Psychiatrie.
Was heute schon möglich ist
EX-IN-Strukturen aufbauen und finanzieren.
Kommunen können – oft sogar unbürokratischer als Länder – Peerstellen in psychosozialen Diensten, Beratungszentren oder kommunalen Gesundheitsprojekten verankern. Über Modellförderungen, Kooperationen mit freien Trägern oder gezielte Teilhabe-Budgets lassen sich Räume für Peerarbeit schaffen.
Trialogische Gremien schaffen. Viele Entscheidungen werden auf kommunaler Ebene getroffen – etwa bei der Sozialplanung, der Ausgestaltung von Teilhabeangeboten oder der Weiterentwicklung psychiatrischer Versorgung. Es braucht hier noch mehr feste Beteiligung von Psychiatrieerfahrenen – mit Rede- und Stimmrecht.
Krisenhilfen und gemeindenahe Angebote sichern. Mobile Krisendienste, betreute Wohngruppen, niedrigschwellige Begegnungsstätten: Kommunen haben Einfluss darauf, ob solche Angebote bestehen, gefördert und weiterentwickelt werden – oder ob sie dem Rotstift zum Opfer fallen.
Antistigma-Arbeit fördern. Über lokale Kampagnen, Kooperationen mit Schulen, Kulturbetrieben oder Medienprojekten können Kommunen zur Bewusstseinsbildung beitragen – gemeinsam mit Betroffenen.
Selbsthilfe noch aktiver unterstützen. Statt auf Projektmittel zu hoffen, brauchen Selbstvertretungsinitiativen stabile Förderung. Kommunen können Räume, Honorare, Personalstellen bereitstellen – und damit Teilhabe konkret ermöglichen.
Öffentliche Räume inklusiv gestalten. Teilhabe heißt auch: psychische Krisen dürfen sichtbar sein. Kommunen können Orte schaffen, an denen Menschen in Krisen respektvoll aufgefangen werden – nicht weggeschickt, ignoriert oder kriminalisiert.
Und ich fordere
Eine verbindliche politische Gesamtstrategie für Peerarbeit – mit abgestimmten Zuständigkeiten auf Bundes- und Landesebene.
Einen bundesweiten Rahmen für EX-IN, der Qualifizierung, Supervision und Anerkennung sichert – ergänzt durch landesspezifische Regelungen zur Eingruppierung, Finanzierung und strukturellen Verankerung, insbesondere im ambulanten Bereich.
Gesetzlich verankerte Beteiligung von Psychiatrieerfahrenen in allen relevanten Gremien – mit echter Entscheidungsbefugnis statt symbolischer Anwesenheit.
Eine konsequente Ambulantisierung psychiatrischer Versorgung, getragen von sozialraumorientierten Konzepten – nicht durch Sparzwänge, sondern durch Menschenrechte.
Kommunale Teilhabestrukturen, die Peerarbeit ermöglichen, Resilienz fördern und niederschwellige, inklusive Angebote sichern – überall, nicht nur in Modellregionen.
Eine gelebte Erinnerungskultur, die das Unrecht der Vergangenheit benennt und daraus eine klare Haltung für Gegenwart und Zukunft ableitet: Nie wieder ist jetzt.
Ein Hinweis zum Schluss:
Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Fachtagung „50 Jahre Psychiatrie-Enquête“. Zum Abschluss der Veranstaltung wurde eine Resolution verabschiedet – sie setzt ein starkes gemeinsames Zeichen für eine menschenrechtsbasierte, inklusive Psychiatrie der Zukunft.
Danke
Die Tagung war ein gelebtes Beispiel dafür, wie inklusive Praxis aussehen kann: divers in der Besetzung, barrierearm in der Durchführung, offen für viele Stimmen. Natürlich bleibt auch hier Luft nach oben – aber im Vergleich zu vielen anderen Fachveranstaltungen war das Maß an gelebter Inklusion bemerkenswert und hat damit neue Maßstäbe gesetzt. Noch nie habe ich erlebt das 14 Verbände gemeinsam eine inklusiveTagung initieren, ich danke allen, die das möglich gemacht haben.
Zuletzt möchte ich nochmals eine Teilnmehmerin zitieren die da sagte:
„Nichts über uns ohne uns - bedeutet im Kern:
wirklich nichts - nicht das Mindeste, nicht das Geringste; in keiner Weise etwas, keine Entscheidung über unser Leben, unsere Rechte oder unsere Unterstützung darf getroffen werden – ohne dass wir selbst mitreden, mitentscheiden und mitgestalten.. Dieses - Nichts - haben viele noch nicht wirklich verinnerlicht.“
© Silvia Meck 04. Juni 2025
Comentarios