Social Media und die Verrohung der Gesellschaft – Ist das wirklich so?
- Silvia Meck

- 17. Sept.
- 5 Min. Lesezeit

Über Werteverlust, Anstand und Moral in der Sprache
Mich erschreckt dieser Hass. Diese Wut. Ich spüre sie auf alles – auf Menschen, auf Randgruppen, auf den Staat, auf Politiker, auf… egal wen. Und ich frage mich ständig: Wo kommt sie her?
Sie entsteht nicht aus dem Nichts. Sie wird genährt von ständiger Empörung, von Hetze, von einer Welt, in der wir kaum noch Ruhe finden, um nachzudenken, zuzuhören, zu verstehen. Sie wächst, wenn Medien polarisieren, wenn Sprache spaltet, wenn Kinder und Jugendliche nie lernen, dass Worte tragen, verbinden und nicht zerreißen. Aber sie entsteht auch durch unsere eigenen Unzulänglichkeiten, die wir nicht reflektieren, durch die Leichtigkeit, mit der wir die Schuld bei anderen suchen. Social Media verstärkt das alles noch – ein Echo, das uns immer wieder zeigt, dass Wut Klicks bringt, Aufmerksamkeit belohnt und Verständnis verdrängt. Beispiele zeigen die Realität: In Kommentarspalten großer Nachrichtenportale wie YouTube, Facebook oder Instagram finden sich täglich Hassbotschaften, oft anonym, oft ohne Folgen.
Laut einer Studie des Pew Research Centers (2021) haben 41 % der Erwachsenen in den USA schon einmal irgendeine Form von Online-Belästigung erlebt, etwa beleidigende Kommentare oder Bloßstellungen. Etwa ein Drittel der Befragten berichtete, persönlich direkt von aggressiven Äußerungen betroffen gewesen zu sein, ohne dass dies ihr eigenes Verhalten beschreibt. Auch in Europa zeigen Studien, dass Online-Belästigung weit verbreitet ist. Die Europäische Grundrechteagentur (FRA, 2023) berichtet, dass viele Menschen online schon einmal beleidigende, bedrohliche oder hasserfüllte Inhalte erlebt haben.
Ergänzend zeigt eine Studie unter Universitätsforschern in Finnland, dass Online-Belästigung auch in akademischen Kontexten häufig vorkommt und erhebliche Folgen für die Betroffenen hat.
Und ja: Diese Wut hängt auch mit sozialer Unsicherheit zusammen. Wenn Arbeit bröckelt, Mieten steigen, Zukunft unklar bleibt, dann suchen viele Menschen schnelle Antworten. Studien zeigen, dass ökonomische Verunsicherung die Neigung zu populistischen Angeboten verstärken kann – nicht als Ausrede, aber als Erklärungsmuster. Wo Regionen abstürzen, wachsen einfache Erzählungen schneller als Vertrauen.
Manchmal, wenn ich durch die Timelines scrolle oder mir Kommentare unter Videos ansehe, wird mir richtig schwindelig. Die Sprache, der Ton, die Art, wie Menschen miteinander umgehen – es fühlt sich an, als wäre das Niveau massiv gesunken. Und nicht nur online. Auch im persönlichen Alltag fällt mir auf, wie schnell Worte verletzen, wie selten noch Höflichkeit oder ein freundliches Wort vorkommt.
Das Spannende ist: Viele Menschen zeigen genau das Verhalten, das sie beim Gegenüber ankreiden. Sie urteilen, verurteilen, werten ab – und erwarten gleichzeitig, dass andere „richtig“ handeln. Sie projizieren ihre eigene Wut, ihren eigenen Frust auf andere, ohne je innezuhalten und zu sehen, was in ihnen selbst vorgeht. Am meisten erschüttert mich: Wie schnell wir Verantwortung abschieben. Wir lassen unserer Wut, unserem begrenzten Blick freien Lauf, urteilen über Menschen, die wir kaum kennen, spalten, werten - und wenn es eskaliert, heißt es: die anderen sind schuld.
Die Frage ist doch: Wann übernehmen Menschen eigentlich Verantwortung? Für ihre Gedanken, ihre Worte, für ihre eigenen Unzulänglichkeiten, für den Hass, die Spaltung, die Wut, den Frust – und für das, was sie damit anrichten? Da fehlt etwas. Ein Mangel, der tiefer geht. Es kann nicht nur fehlende Empathie sein, nicht nur mangelnde Selbstreflexion oder fehlender Perspektivwechsel. Es muss ein tieferliegender psychologischer Mangel sein, der all das möglich macht.
Wenn wir darüber nachdenken, warum so viele Menschen Verantwortung vermeiden, wird deutlich, dass mehrere Mängel zusammenspielen. Viele haben nie gelernt, bewusst innezuhalten und ihr eigenes Handeln oder Denken kritisch zu hinterfragen. Ohne diese Selbstreflexion verschwimmen Schuld und Verantwortung, und Probleme werden automatisch auf andere geschoben. Wer sich nicht in andere hineinversetzen kann, erkennt nicht, welche Wirkung Worte und Taten haben. Ohne Empathie wird die eigene Wut oder Frustration schnell zur Rechtfertigung, andere zu verletzen. Hinzu kommt, dass viele Menschen keine Strategien besitzen, mit Frust, Wut oder Angst umzugehen; Emotionen explodieren, statt bewusst kanalisiert zu werden, und Schuldzuweisungen ersetzen die Reflexion. Verantwortung erfordert, die Konsequenzen des eigenen Handelns zu erkennen und dafür einzustehen. Fehlt diese innere Reife, wird die Schuld immer extern verortet – „die anderen“ sind verantwortlich. Schließlich fehlt oft auch die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zur moralischen Vorstellungskraft. Wer die Welt nur aus dem eigenen, eingeschränkten Blick sieht, erkennt nicht, welche Schäden entstehen, und verliert den Bezug zu einer gemeinsamen, verantwortungsvollen Haltung.
Dieses Problem wird zusätzlich verstärkt durch Algorithmen auf Social-Media-Plattformen, die unsere Aufmerksamkeit gezielt steuern, Empörung und Polarisierung belohnen und dadurch das kritische Denken untergraben. Viele verlieren die Eigenständigkeit, Informationen zu prüfen oder eigene Schlüsse zu ziehen, und lassen sich von vorgefertigten Narrativen leiten. Ohne die bewusste Auseinandersetzung mit Inhalten, ohne Reflexion und eigenständiges Denken entsteht ein Nährboden für Hass, Schuldzuweisungen und Spaltung, der sich gegenseitig verstärkt. Studien zeigen, dass Inhalte, die starke Emotionen auslösen, signifikant häufiger geteilt werden als neutrale Beiträge.
Das ist kein Zufall, sondern System: Feeds, die auf Klicks trainiert sind, schieben das nach oben, was spaltet. Algorithmische Audits belegen, dass polarisierende Inhalte leichter verstärkt werden – und damit öfter vor unseren Augen landen. Selbst dort, wo Plattformen am Regler drehen, bleibt klar: Die Sache ist komplexer als „Schalter umlegen“., aber der Grundimpuls – Aufmerksamkeit vor Einsicht – ist eingerechnet.
Deshalb brauchen wir Gegenkräfte: echte Medienkompetenz, offene Daten für Forschung und Regeln, die Transparenz erzwingen. Der Digital Services Act (DSA) zwingt die ganz Großen, Risiken zu prüfen und Einblick zu geben. Doch die Umsetzung ist noch unvollständig und kaum sichtbar, weil Plattformen Schlupflöcher nutzen, Algorithmen extrem komplex sind, Aufsicht personell begrenzt ist und Änderungen Zeit brauchen, bis sie überhaupt wahrnehmbar werden. Das beweist umso mehr, dass dies nicht unser eigenes Denken ersetzt, – aber es schafft Licht in der Blackbox und gibt uns die Chance, wieder selbst zu gewichten, statt uns gewichten zu lassen.
Wir müssen auch klar sehen, dass die Frage, wer von gesellschaftlicher Spaltung profitiert, unterschiedlich beantwortet wird. Manche sehen politische Steuerung von rechts oder links als Ursache, andere vermuten wirtschaftliche Interessen oder mediale Effekte. Fakt ist: Polarisierung entsteht durch ein Zusammenspiel vieler Kräfte – soziale Unsicherheit, manipulierte Narrative, mediale Anreize und fehlende Reflexion.
Dabei zeigt uns diese Welt auch, wie verletzlich wir sind. Es geht nicht nur um ein paar böse Worte im Netz. Es geht um Anstand, Respekt, um die einfache Menschlichkeit, die in der Sprache steckt. Wenn wir nicht mehr aufpassen, verlieren wir nicht nur den Ton, sondern ein Stück von uns selbst.
Veränderung beginnt genau hier: in jeder kleinen Entscheidung, nicht mit Worten zu zerreißen, sondern mit Worten zu halten, zu stützen, zu vermitteln. Sprache ist nicht nur Ausdruck – sie ist ein Spiegel unserer Werte, unserer Menschlichkeit und dieser Spiegel darf nicht blind werden, er darf nicht zerkratzen.
Aus grüner Sicht heißt das: Wir lehnen Instrumentalisierung von Angst, Wut und Misstrauen ab. Wir wollen Ursachen verstehen, statt sie zu verurteilen, und Strukturen verändern, die Spaltung begünstigen. Das bedeutet konkret: Politik, Bildung und Medien müssen gemeinsam Bedingungen schaffen, in denen Vertrauen wächst, Perspektivenwechsel möglich ist und Debatten zivil geführt werden – unabhängig von politischer Richtung. Verantwortung übernehmen heißt, Brücken zu bauen statt Konflikte zu schüren.
Wir brauchen politische Vorbilder, Institutionen und Strukturen, die klar zeigen: Hass, Spaltung und Schuldzuweisungen sind nicht akzeptabel. So entsteht ein Umfeld, in dem Verantwortung, Empathie und Reflexion sichtbar gelebt werden können – nicht nur gefordert. Bildungseinrichtungen können Workshops zur Medienkompetenz anbieten, soziale Simulationen fördern und kritisches Denken stärken. Politik und Gesellschaft können Vorbilder schaffen, die respektvolle Kommunikation sichtbar machen, und Anreize setzen, die konstruktiven Austausch belohnen.
Individuell können wir dem ebenso etwas entgegensetzen. Indem wir bewusst sprechen, zuhören, nachdenken, bevor wir schreiben oder sagen. Indem wir zeigen, dass Respekt nicht leise sein muss, sondern klar, stark und präsent – und trotzdem nicht verletzt. Indem wir Kindern, Jugendlichen und allen um uns herum vorleben, dass Worte tragen, verbinden und aufrichten können. Wir können dagegenhalten: bewusst reflektieren, innehalten, bevor wir posten. Perspektivenwechsel üben und Medieninhalte kritisch hinterfragen. Zeigen wir das Respekt nicht leise sein muss, sondern klar, stark und präsent – und trotzdem nicht verletzt.
Lasst uns daher innehalten, bevor wir schreiben oder sprechen, prüfen, ob wir aufbauen oder zerstören, verbinden oder spalten. Lasst uns zuhören, ohne zu unterbrechen, verstehen wollen, ohne zu urteilen, und zeigen, dass Respekt und Freundlichkeit keine Schwäche, sondern Kraft sind. Mögen unsere Worte Brücken bauen, statt Mauern, öffnen statt verschließen – online wie offline.
© Silvia Meck, 18. September 2025
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