Zwischen Selbstfürsorge und Egoismus
- Silvia Meck
- vor 2 Tagen
- 6 Min. Lesezeit
Wenn Achtsamkeit zur Zumutung wird – und Fürsorge eine politische Frage ist

Es beginnt oft mit einem scheinbar kleinen Schritt. Eine Grenze, die gezogen wird, fast entschuldigend.
Ein Rückzug, der nicht ins Raster passt. Eine Entscheidung, innezuhalten, obwohl die Welt nach Tempo verlangt. Da taucht es schon auf, das Wort das schwerer wiegt als es klingt: egoistisch.
So schnell ist es gesagt. So tief wirkt es nach. Besonders bei denen, die ohnehin gelernt haben, sich selbst zuletzt zu stellen. Weil sie Verantwortung tragen, weil sie nicht auffallen wollen, weil sie funktionieren müssen. In einer Gesellschaft, die Leistung feiert, ist Fürsorge nur dann erlaubt, wenn sie sich auf andere richtet. Wer sich selbst in den Blick nimmt, wird schnell zur Projektionsfläche für Abwertung:
schwach, unzuverlässig, nicht belastbar – als ob das Dasein allein nicht schon anstrengend genug wäre.
Dabei ist der Unterschied zwischen Selbstfürsorge und Egoismus selten eine Frage der Handlung, sondern eine der Zuschreibung. Es macht einen Unterschied, wer für sich sorgt – und in welchem Kontext das geschieht. Eine Führungskraft, die sich eine Auszeit nimmt, wird als reflektiert und vorausschauend bezeichnet. Eine chronisch kranke Frau, die Termine absagt, um stabil zu bleiben, gilt als schwierig. Zwei Mal dieselbe Entscheidung – zwei völlig verschiedene Bewertungen.
Was hier sichtbar wird, sind keine individuellen Missverständnisse, sondern gesellschaftliche Strukturen. Es geht um Deutungshoheit, um Normen, um Rollenerwartungen, die tief in Sprache und Haltung eingeschrieben sind. Es geht um die Frage, wer sich Selbstfürsorge überhaupt leisten darf – emotional, sozial, ökonomisch.
Der Vorwurf des Egoismus hat eine lange Geschichte und eine, die selten neutral war. Seit Jahrhunderten wird das Wort genutzt, um Verhalten zu bewerten – und zwar nicht objektiv, sondern normativ: Wer als egoistisch gilt, verstößt gegen das, was als richtig, sittlich, gemeinschaftsdienlich gilt. Doch was das genau bedeutet, war nie universell – sondern abhängig davon, wer spricht, wen es betrifft, und in welcher Ordnung das Urteil gefällt wird.
Der Egoismusvorwurf trifft nie alle gleich. Er richtet sich vor allem gegen jene, deren Bedürfnisse ohnehin zu wenig gesehen werden – und die sich dennoch erlauben, auf sie zu bestehen. Frauen, die sich nicht aufopfern. Menschen mit Behinderung, die Grenzen setzen. Pflegekräfte, die ihre Kraft einteilen. Mütter, die sich Freiräume nehmen und all jene, die den Mut haben, Nein zu sagen, obwohl das Ja von ihnen erwartet wird.
Denn in vielen Köpfen gilt noch immer das Bild: Wer sich selbst wichtig nimmt, vernachlässigt die anderen. Dabei stimmt das oft genau nicht. Es sind gerade die Menschen, die gut für sich sorgen, die auch tragfähige Beziehungen gestalten. Doch Fürsorge, die sich nicht verausgabt, die nicht stillschweigend alles mitträgt, wirkt in einer erschöpften Gesellschaft wie ein Affront. Wer Grenzen zieht, zeigt auch: Es ginge anders. Und genau das macht unbequem.
Es ist kein Zufall, dass der Vorwurf des Egoismus besonders oft diejenigen trifft, die sich ohnehin zwischen Rollen bewegen. Menschen, von denen erwartet wird, dass sie sich kümmern – bedingungslos, verfügbar, verlässlich. Care-Arbeit, ob bezahlt oder unbezahlt, wird noch immer in erster Linie weiblich gedacht. Sie wird gemacht, nicht verhandelt. Erledigt, nicht anerkannt. Wer hier Fürsorge zeigt, soll nicht auffallen. Schon gar nicht mit eigenen Bedürfnissen.
So entsteht ein leises Paradox: Die Fürsorge, die andere stützt, wird idealisiert. Die Fürsorge, die dem eigenen Erhalt dient, wird problematisiert. Wer sich in den Dienst anderer stellt, gilt als wertvoll – solange er oder sie dabei nicht zu viel will. Wer aber das eigene Wohlbefinden nicht ausklammert, gerät schnell in einen Erklärungsdruck. So als müssten Erschöpfung, Krankheit oder Grenzen erst legitimiert werden, bevor sie ernst genommen werden dürfen.
Zwischen Rollen zu stehen heißt oft auch, sich ständig selbst zu überprüfen:
Bin ich schon zu viel? Noch pflichtbewusst genug? Schon wieder egoistisch?
Besonders in belasteten Konstellationen – etwa bei pflegenden Angehörigen, in Alleinerziehendenhaushalten, in Helferberufen oder in therapeutischen Beziehungen – verschieben sich die Maßstäbe. Dort, wo Verantwortung unausgesprochen zur Identität wird, erscheint Selbstfürsorge schnell wie ein Bruch. Nicht, weil sie es wäre – sondern weil das gesellschaftliche Skript sie nicht vorsieht.
Wer bestimmt eigentlich, was als fürsorglich gilt – und was als selbstbezogen, schwierig oder unbequem?
Es sind nicht die Menschen, die sich täglich durchkämpfen. Es sind nicht jene, die zwischen Erwerbsdruck, Familienpflichten und innerem Überleben balancieren.
Es sind die Strukturen, die auf Effizienz, Verfügbarkeit und Anpassung beruhen. Strukturen, die funktionieren müssen, nicht fühlen und so wird Fürsorge zur Frage der Perspektive: Je nachdem, woher man blickt, wird dieselbe Handlung als klug oder problematisch gelesen.
Ein Rückzug wird dann zum Warnsignal – oder zum Widerstand. Eine Pause zum Privileg – oder zur Belastung.
Wer ausfällt, stört den Ablauf. Wer sich schützt, steht schnell unter Verdacht, nicht wirklich zu wollen.
Viele Systeme – ob Arbeitsmarkt, Gesundheitswesen, Bildung oder Verwaltung – kennen keine Sprache für Selbstfürsorge jenseits des Funktionierens. Sie denken in Ressourcen, nicht in Menschen. In Leistungsfähigkeit, nicht in innerer Not.
So gerät Selbstfürsorge ins Visier. Nicht, weil sie falsch wäre – sondern weil sie etwas aufdeckt:
Dass die Art, wie wir arbeiten, helfen, leben, oft nicht zu dem passt, was Menschen brauchen, um heil zu bleiben.
Dass Fürsorge, wenn sie ernst gemeint ist, nicht ins Raster passt.
Dass das Eigene zu achten manchmal ein stiller Akt der Gegenwehr ist – gegen eine Welt, die allzu oft vergisst, dass auch die, die geben, etwas brauchen.
Doch Selbstfürsorge bleibt selten folgenlos. Wer sich entscheidet, für sich selbst einzustehen, trifft nicht nur persönliche Entscheidungen – sondern rührt oft an unausgesprochene Erwartungen im sozialen Umfeld.
Grenzen, die gesetzt werden, irritieren. Rollen, die nicht mehr erfüllt werden, erzeugen Reibung und nicht selten folgt auf eine stille Selbstzuwendung ein lauter Widerstand: Vorwürfe, Abwertungen, Verdrehungen.
Nimmt sich jemand zurück entsteht Raum – aber auch Leere.
Raum, in dem andere ihre eigene Verantwortung spüren, ihre eigene Überforderung. Ihre Angst, etwas nicht mehr kontrollieren oder gewohnt einfordern zu können.
Nicht selten wird dann aus Selbstfürsorge ein Anlass für Zuschreibungen: egoistisch, schwierig, unzuverlässig. Nicht, weil die Entscheidung falsch wäre, sondern weil sie Kontraste sichtbar macht – und Komfortzonen in Frage stellt.
In manchen Fällen nimmt das verletzende Formen an:
öffentliche Entwertung, üble Nachrede, soziale Ausgrenzung.
Es sind stille Strafen für eine Haltung, die nicht mehr reibungslos funktioniert und es sind Formen sozialer Gewalt, die besonders dann schmerzen, wenn die Fürsorge, um die es geht, aus einer Notwendigkeit heraus geschieht – nicht aus Bequemlichkeit oder Trotz.
Selbstfürsorge ist in solchen Momenten kein leichter Weg. Aber vielleicht einer, der gerade deshalb notwendig ist.
Selbstfürsorge deckt auf, was lange überdeckt wurde. Sie schaftt Klärung, weil sie ein Gegenentwurf ist – zu einem Umgang, in dem das Funktionieren mehr zählt als das Wohl.
Umso wichtiger ist es, nicht vorschnell zu verurteilen, wo Menschen ihre Kraft bewahren. Nicht zu diffamieren, wo sie Grenzen setzen, um sich selbst nicht zu verlieren.
Vielleicht geht es am Ende gar nicht darum, eine Linie zu ziehen zwischen Selbstfürsorge und Egoismus. Vielleicht liegt der Fehler schon im Versuch, das eine vom anderen abzugrenzen – als ob Fürsorge immer beweisen müsste, dass sie nicht zu viel ist. Wer sich um sich selbst kümmert, tut nichts Unanständiges. Er oder sie stellt nur etwas wieder her, das allzu oft verloren gegangen ist:
das Recht, als Mensch zu leben, nicht als Funktion. Ein Recht auf Pause, auf Stille, auf Unentschiedenheit. Auf Rückzug, ohne Erklärung. Auf Wohlwollen mit sich selbst, auch wenn die Umstände fordern, dass man sich weiter verausgabt.
Vielleicht braucht es nicht mehr Heldenmut, sondern mehr Erlaubnis.
Mehr Räume, in denen Menschen nicht kämpfen müssen, um sich selbst wichtig zu nehmen und mehr Sprache, die das zulässt, ohne gleich zu bewerten.
Doch das allein reicht nicht. Denn solange Selbstfürsorge ein Privileg bleibt – abhängig von Einkommen, Absicherung, gesellschaftlicher Anerkennung –, bleibt sie ungleich verteilt.
Solange Strukturen Leistung belohnen, aber Pausen bestrafen, bleibt Selbstfürsorge ein Risiko – für die einen mehr als für die anderen.
Solange Sorgearbeit unsichtbar bleibt, wird das, was Menschen brauchen, nicht politisch ernst genommen. Deshalb ist Fürsorge nicht nur eine persönliche, sondern eine politische Frage. Sie berührt Machtverhältnisse, soziale Gerechtigkeit, Zugang zu Ressourcen – und den Wert, den eine Gesellschaft dem Menschsein beimisst. Eine Gesellschaft, die das übersieht, gefährdet nicht nur Einzelne – sondern sich selbst.
Fürsorge beginnt nicht dort wo jemand sich aufopfert, Sondern dort wo jemand sich nicht verliert. Wer das als egoistisch empfindet, hat vielleicht vergessen, wie viel Mut es braucht, sich selbst nicht zu verraten – in einer Welt, die das so leichtfertig übersieht.
© Silvia Meck, 31. August 2025
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