Inklusion zwischen Anspruch und Realität
- Silvia Meck
- 7. Feb.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Feb.

Manchmal öffnet man nachts das Internet – und dann das. Eine Nachricht, die wütend macht, traurig stimmt und sprachlos zurücklässt. In Berlin ist ein Mensch an einem U-Bahnhof gestorben. Ein tragischer Unfall, der nicht einfach passieren dürfte. Er zeigt: Es gibt große Probleme, die endlich gelöst werden müssen.
Es geht nicht nur um die technischen Barrieren, sondern auch um das gesellschaftliche Bewusstsein, das fehlt. Um die Unterstützung im Alltag, die nicht selbstverständlich ist. Um eine Gesellschaft, die immer noch nicht begreift, dass Barrierefreiheit keine Frage des guten Willens ist, sondern ein Grundrecht.
Bis heute werden Menschen mit Behinderungen nicht konsequent in Planungsprozesse einbezogen. Dadurch entstehen Lösungen, die in der Praxis nicht funktionieren. Das Argument? Es gibt nicht genug Zeit und Personal. Selbst die Stadträte hören oft nicht hin, obwohl die Behindertenbeiräte sachlich und ruhig ihre Vorschläge einbringen. Während wir über Berlin reden – in Kaiserslautern geht seit Monaten der Aufzug am Hauptbahnhof nicht. Hätte niemand Zugang zum Gleis, wäre schon längst eine Lösung gefunden worden, das lässt mich immer wieder sprachlos zurück.
Viel zu oft wird Barrierefreiheit als Zusatzaufwand betrachtet, statt als Selbstverständlichkeit. Dabei würde sie so vielen helfen – nicht nur Rollstuhlfahrern, sondern auch älteren Menschen, Eltern mit Kinderwagen und Reisenden mit schwerem Gepäck. Doch das Bewusstsein dafür fehlt. Während immer wieder betont wird, wie wichtig Inklusion sei, passiert in der Realität kaum etwas.
Ein Blick auf das Thema Bauen und Wohnen zeigt, wie groß das Problem ist. Es fehlen barrierefreie Wohnungen. Viele Neubauten sind nicht rollstuhlgerecht geplant, obwohl es gesetzliche Vorgaben gibt. In Rheinland-Pfalz steht das sogar in der Landesbauordnung. Trotzdem sieht die Realität anders aus. Stufenlose Eingänge, breite Türen, schwellenlose Duschen – Dinge, die längst Standard sein sollten, aber noch immer die Ausnahme sind. Manche Menschen brauchen sogar weiterhin eine Badewanne für Schmerz- oder Wärmetherapie. Doch oft wird „barrierefrei“ nur nach Schema F umgesetzt, ohne die individuellen Bedürfnisse zu berücksichtigen.
Auch in der Arbeitswelt gibt es viel zu tun. Viele Büros sind nicht zugänglich. Keine Aufzüge, enge Türen, fehlende Anpassungen an Computerarbeitsplätzen. Doch es geht nicht nur um physische Barrieren – auch digitale Barrieren machen vielen Menschen das Leben schwer. Webseiten, die nicht mit Screenreadern kompatibel sind. Fehlende Untertitel in Videos. Programme, die für Gehörlose oder Blinde nicht nutzbar sind. Die EU-Richtlinie zur Barrierefreiheit muss bis zum 30. Mai 2025 umgesetzt sein – aber wird sie das wirklich? Oder bleibt es wie so oft bei den schönen Worten ohne echte Veränderungen?
Auch in der Freizeit gibt es Barrieren. Museen, Kinos, Konzerthallen – oft unzugänglich. Wenige barrierefreie Sitzplätze, keine Audioguides, fehlende Untertitel. In Kaiserslautern ist das nicht anders. Dabei sind diese Dinge längst gesetzlich geregelt. Auch Hotels sind oft schlecht auf Menschen mit besonderen Bedürfnissen vorbereitet. Selbst Arztpraxen sind nicht immer zugänglich, und viele Mediziner sind nicht geschult, um Menschen mit Behinderungen angemessen zu behandeln – eine Erfahrung, die ich erst kürzlich mit einer Klientin machen musste.
Und dann gibt es noch eine weitere Entwicklung, die besorgniserregend ist: Die rechtsradikalen und antidemokratischen Strömungen gewinnen an Einfluss. Hass, Hetze und Ausgrenzung nehmen zu. Diese Ideologien bedrohen nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund, sondern auch Menschen mit Behinderungen, queere Menschen und soziale Randgruppen. Wenn diese Ideologien mehr Macht gewinnen, drohen der Abbau von Minderheitenrechten, der Rückschritt bei Inklusionsmaßnahmen und eine tiefere Spaltung der Gesellschaft.
Doch es gibt Hoffnung. Hunderttausende Menschen sind in den letzten Wochen auf die Straße gegangen, um ein Zeichen gegen diese Entwicklungen zu setzen. Die Frage ist nur: Bleibt es bei symbolischen Aktionen, oder folgen daraus echte Veränderungen?
Jeder kann etwas tun. Nicht wegsehen, wenn Menschen ausgegrenzt werden. Politisch aktiv sein. In Gesprächen für Inklusion, Demokratie und Solidarität eintreten. Denn Demokratie und Menschlichkeit sind keine Selbstverständlichkeit – sie müssen aktiv verteidigt werden.
Und eine letzte Frage bleibt: Warum berichten die großen Medien kaum über den Unfall in Berlin? Wurde er nicht als wichtig genug angesehen? War es „nur“ ein tragischer Einzelfall ohne klare Schuldzuweisung? Oder liegt es daran, dass Barrierefreiheit immer noch als Randthema betrachtet wird?
Die Berichterstattung über solche Ereignisse ist entscheidend, um den Druck für Veränderungen aufzubauen. Leserinnen und Leser können Redaktionen anschreiben und größere Aufmerksamkeit fordern. Soziale Medien können genutzt werden, um die Reichweite zu erhöhen. Inklusionsmedien müssen gestärkt und ihre Inhalte weiterverbreitet werden.
Die Barrierefreiheit ist kein Luxus. Sie ist ein Grundrecht. Aber um echte Veränderungen zu erreichen, braucht es mehr als Gesetze. Es braucht Aufmerksamkeit. Engagement. Und den Willen, sich für eine Gesellschaft einzusetzen, in der wirklich alle Menschen die gleichen Chancen haben.
Anmerkung:
Bericht auf den sich dieser Beitrag bezieht. https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2025/01/berlin-rollstuhl-unfall-ubahn-tod-tragoedie.html
Das Bild ist ein Beispielfoto für Barrieren, den Schlosspark kann man auch anderweitig erreichen.
© Silvia Meck 07. Februar 2025
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