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Ich höre zu – und weiß nicht, was ich sagen soll

  • Autorenbild: Silvia Meck
    Silvia Meck
  • 17. Juni
  • 10 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 3. Juli


Psychische Gewalt, Ableismus und das Schweigen der Strukturen

Violette Kugelblüten im Vordergrund, dahinter zahlreiche gelbe Blüten in einem sonnigen Garten. Die Szene wirkt ruhig, der Hintergrund ist leicht unscharf.
Blütenstille in gelb und violett

Lesedauer: ca. 18–20 Minuten

Ich weiß, das ist lang, aber manches lässt sich nicht kürzer sagen, ohne dass etwas Wesentliches verloren geht. Dieses Thema braucht Zeit. Raum. Und die Bereitschaft, hinzusehen.


Triggerwarnung:

Dieser Text behandelt psychische, körperliche und sexualisierte Gewalt, Ableismus sowie strukturelle Diskriminierung. Er enthält explizite Beschreibungen von Ohnmacht, Retraumatisierung und systemischer Ausgrenzung.

Bitte achte gut auf dich beim Lesen.



Es war ein Gespräch wie viele andere. Jemand schildert seine Verletzung, den Moment, in dem ihm zwischen den Zeilen klargemacht wurde:

„Du funktionierst wieder – dann kannst du jetzt ja auch wieder leisten.“

In diesem Fall war es nur ein Satz:

„Dann kannst du ja beim nächsten Mal wieder das Protokoll schreiben.“

Nicht laut, nicht böse – und doch schmerzhaft.


Ich habe zugehört, und ich wusste nicht, was ich sagen soll.

Nicht, weil es mir fremd wäre – im Gegenteil, weil ich selbst solche Situationen kenne. Ich weiß, wie entwaffnend solche Sätze sein können,

und vielleicht bin ich gerade deshalb als Ansprechperson plötzlich sprachlos.

Ich habe keine schnellen Antworten, und Ratschläge können auch Schläge sein – also schweige ich. Was bleibt, ist ein Gefühl der Hilflosigkeit, das schwer auszuhalten ist.


Vielleicht ist genau das der Punkt, an dem es sich lohnt, genauer hinzusehen.


Ich bin ebenso ein Mensch mit seelischen Wunden. Nicht, weil ich zu empfindlich bin, sondern weil ich Gewalt erlebt habe: Missbrauch, Liebesentzug, Entwertung – psychisch wie körperlich. Das erzähle ich nicht, weil ich muss oder weil es leicht ist – sondern weil wir aufhören müssen, so zu tun, als ließe sich Gewalt verschweigen.

Nur wenn wir offen sind, kann sich etwas verändern – auch wenn es uns angreifbar macht.


Sehen wir uns die Fakten an

Gewalt gegen Frauen ist kein Randphänomen – sie ist erschreckend alltäglich. Laut einer Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) haben viele Frauen in Deutschland seit ihrem 16. Lebensjahr Gewalt erlebt. Besonders häufig sind:


– Psychische Gewalt – durch Einschüchterung, Demütigung oder Kontrolle

– Körperliche Gewalt – z. B. Schläge, Würgen, Verletzungen

– Sexualisierte Gewalt – wie Nötigung, Übergriffe oder Vergewaltigung


Die Gewalt geschieht oft im sozialen Nahraum – durch (Ex-) Partner, Familie oder Bekannte.


Psychische Gewalt ist dabei besonders häufig. Viele Frauen berichten von Demütigungen, Bedrohungen oder systematischer Abwertung – im privaten Umfeld, aber auch am Arbeitsplatz oder in politischen Räumen. In einer früheren Erhebung (2004) wurde dieser Anteil mit 42 % beziffert.


Aktuelle FRA-Daten (EU-Survey 2021, veröffentlicht 2024) zeigen:

– 30,7 % aller Frauen in der EU erlebten körperliche oder sexualisierte Gewalt

– 17,7 % der Täter:innen kamen aus dem häuslichen Umfeld

– 33 % der Befragten erfuhren sexuelle Belästigung, etwa am Arbeitsplatz


Psychische Gewalt betrifft alle – auch Männer und queere Menschen.


Auch Männer erleben psychische, körperliche oder sexualisierte Gewalt – ebenso queere Menschen, deren Erfahrungen oft noch weniger sichtbar sind.


Laut Bundeskriminalamt waren 2023 rund 29,5 % aller registrierten Opfer häuslicher Gewalt männlich – über 75.000 Männer. Bei partnerschaftlicher Gewalt lag ihr Anteil bei 20,8 %.


Eine Dunkelfeldstudie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (2024) ergab:

– 54 % der befragten Männer erlebten Gewalt in Partnerschaften

– 39,8 % psychische Gewalt

– 38,6 % kontrollierendes Verhalten

– 29,8 % körperliche Gewalt

– 5,4 % sexualisierte Gewalt


Warum bleibt das oft unsichtbar?

Viele von ihnen schweigen, aus Angst, nicht ernst genommen zu werden. Denn Verletzlichkeit widerspricht noch immer dem Bild des „starken Mannes“.

Wer als Mann verletzt wird, gilt schnell als „überempfindlich“, wer sich wehrt, als aggressiv. So entsteht ein doppeltes Schweigen: das eigene – und das der Gesellschaft und auch das ist Gewalt.

Männer leiden unter toxischen Männlichkeitsidealen, die Nähe und Schwäche abwerten.


Queere Perspektiven: Gewalt durch Unsichtbarkeit und Ausgrenzung.


Auch queere Menschen erleben psychische Gewalt – häufig wiederholt und auf mehreren Ebenen. Besonders trans, inter, nicht-binäre und asexuelle Personen erfahren sie strukturell: durch Missachtung, Misgendern, Abwertung und Ausgrenzung.


Laut EU-LGBTI Survey II (FRA 2020) wurden 43 % aller queeren Menschen in Europa innerhalb von zwölf Monaten diskriminiert – bei trans Personen lag der Anteil bei über 60 %.


Laut EU-LGBTIQ Survey III (2024) berichten:

– 43 % von Diskriminierung aufgrund der Identität

– 14 % von körperlicher oder sexualisierter Gewalt

– Viele von wiederholter psychischer Gewalt – auch durch Behörden, medizinische Einrichtungen oder soziale Dienste


Psychische Gewalt ist kein individuelles Problem.

Sie ist ein strukturelles – und sie geht uns alle an.


Wie gehen wir damit nun um?


Gewalt endet nicht, wenn der konkrete Übergriff vorbei ist. Sie hinterlässt Spuren – und diese Spuren sind es, die sich in vielen Alltagssituationen wiederholen. Nicht als spektakuläre Schlagzeilen, sondern als stetige Tropfen: ein misstrauischer Blick, ein übergriffiger Kommentar, ein Satz, der Vertrauen erschüttert.


Für viele bedeutet das: Retraumatisierung in Dauerschleife –

besonders dann, wenn alte Wunden nicht gesehen, sondern neu aufgerissen werden. Durch Strukturen, die Gewalt nicht beim Namen nennen, sondern sie bagatellisieren. Genau deshalb braucht es den Mut, das Unsichtbare sichtbar zu machen – auch wenn es weh tut.


Wenn selbst die Gesetzeslage verstummt


Trotz wachsender gesellschaftlicher Aufmerksamkeit für psychische Gewalt – also etwa Gaslighting, Ghosting oder Coercive Control – bleibt das deutsche Strafrecht weitgehend stumm. Zwar wurde Stalking (§ 238 StGB) bereits 2007 eingeführt und 2021 erweitert; Coercive Control hingegen – also psychische Zwangskontrolle durch Isolation, Überwachung und emotionale Manipulation – ist bislang nur in einigen anderen Ländern als eigenständiger Straftatbestand anerkannt, etwa in Großbritannien (seit 2015), Irland, Spanien (ab 2022) oder New South Wales (seit Juli 2024); in Deutschland hingegen fehlt bislang eine vergleichbare Regelung. Fachverbände und Betroffeneninitiativen – darunter auch Bündnis 90/Die Grünen – fordern bereits seit 2021 eine Erweiterung des rechtlichen Schutzes, etwa im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes oder als Bestandteil des Koalitionsvertrags von 2021; das neue Gewalthilfegesetz, das zum 31. Januar 2025 in Kraft getreten ist, garantiert zwar einen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung, fokussiert jedoch weiterhin auf physische und sexualisierte Gewalt – psychische Gewaltformen wie Coercive Control bleiben dabei außen vor.


Warum diese Lücke für Betroffene problematisch ist:

Subtile Gewalt hinterlässt keine blauen Flecken – aber sie bewirkt Isolation, Identitätsverlust und strukturelle Ohnmacht.

Ohne klaren gesetzlichen Rahmen fehlen Betroffenen rechtliche Hebel – und Täter:innen entziehen sich der Verantwortung.

Solange psychische Gewalt nicht per Gesetz anerkannt ist, bleibt sie auch gesellschaftlich unsichtbar – und Betroffene stehen oft allein da.


Das deutsche Recht kennt bisher nur körperlich sichtbare Gewalt – psychische Gewaltformen bleiben ungeschützt. Ein Paradigmenwechsel ist dringend nötig: Wir brauchen einen Gesetzesrahmen, der psychische Gewalt genauso ernst nimmt wie körperliche – und endlich anerkennt, dass auch Schweigen, Kontrolle und Manipulation verletzen und strafbar sein können.


Betoffene erleben tiefgreifende Verunsicherung, systematische Abwertung oder den plötzlichen Beziehungsabbruch – und stehen dennoch oft ohne rechtliche Handhabe da. Während Rückzug gesellschaftlich akzeptiert ist, wird der Versuch, Kontakt herzustellen oder ein klärendes Gespräch zu führen, schnell problematisiert – teils sogar als Grenzüberschreitung gewertet. So wird nicht das verletzende Verhalten selbst, sondern die Reaktion darauf zum „Problem“ gemacht.


Ein Paradoxon, das psychisch schwer wiegt.


Was es braucht, ist eine Gesetzgebung, die auch psychische Gewalt ernst nimmt –

nicht erst dann, wenn sie eskaliert, sondern dort, wo sie beginnt:

im gezielten Schweigen, in der strukturellen Abwertung, in der Umkehr von Verantwortung.


Diese Zahlen sind keine abstrakten Befunde – sie spiegeln gelebte Realität.


Kurzer Exkurs zu Begrifflichkeiten von Formen psychischer Gewalt,die in diesem Zusammenhang immer wieder fallen – und oft doch unklar bleiben:


Gaslighting meint eine Form psychischer Manipulation, bei der das Gegenüber gezielt verunsichert wird; das geschieht etwa durch das Leugnen von Wahrnehmungen, das Infragestellen von Erinnerungen oder das bewusste Umdeuten von Realität; Ziel ist es, das Selbstvertrauen zu erschüttern und den eigenen Wahrnehmungen nicht mehr zu trauen.


Ghosting beschreibt den plötzlichen, vollständigen Kontaktabbruch – ohne Vorwarnung, ohne Erklärung, ohne Abschied; für viele Betroffene bedeutet das Ohnmacht, Isolation und das Gefühl, wertlos geworden zu sein.


Stalking – juristisch unter § 238 StGB gefasst – meint das wiederholte, unerwünschte Verfolgen, Kontaktieren oder Überwachen einer Person; Schutz besteht meist erst dann, wenn die Beeinträchtigung erheblich und nachweisbar ist.


Coercive Control bezeichnet eine Form systematischer psychischer Gewalt, die nicht unbedingt laut ist – aber allgegenwärtig; durch Kontrolle, Überwachung, Isolation und subtile Drohungen wird das Gegenüber in seiner Selbstbestimmung schrittweise eingeschränkt; was nach außen wie Fürsorge wirkt, ist oft eine unsichtbare Form der Gefangenschaft.


Mobbing meint das wiederholte Abwerten, Schikanieren oder soziale Ausgrenzen einer Person, etwa am Arbeitsplatz oder in Institutionen; geschieht das gezielt durch Vorgesetzte, spricht man von Bossing; in beiden Fällen geht es nicht um einzelne Konflikte, sondern um systematische Herabwürdigung mit oft schwerwiegenden Folgen.


Weniger bekannt – aber ebenso verletzend – sind Begriffe wie

Silent Treatment; damit ist gemeint, dass das Gegenüber durch gezieltes Schweigen oder emotionale Abwesenheit bestraft wird; es entsteht eine Situation, in der Nähe und Zuwendung verweigert werden, ohne dass ein Grund benannt wird.


Emotionale Erpressung funktioniert oft über Schuldgefühle; wenn Zuneigung an Bedingungen geknüpft wird („Wenn du mich liebst, dann…“), geht es nicht um Beziehung, sondern um Macht.


Auch Lügen, Verzerren oder das bewusste Verschweigen wesentlicher Informationen können Teil psychischer Gewalt sein – besonders dann, wenn sie gezielt eingesetzt werden, um Orientierung zu nehmen oder Kontrolle auszuüben.


Soziale Isolierung wiederum bedeutet, dass Kontakte zu Freund:innen, Familie oder Unterstützer:innen eingeschränkt, verhindert oder entwertet werden – bis das Gegenüber kaum noch eigene Bezugspersonen hat.


Oft kommt es auch zur Instrumentalisierung Dritter – etwa wenn Kinder, Kolleg:innen oder Bekannte als Druckmittel verwendet werden, um Schuldgefühle zu erzeugen oder Verantwortung zu verschieben.


Mikroaggressionen schließlich wirken häufig im Verborgenen: kleine, abwertende Bemerkungen; ironisch verpackte Kritik; subtil herabwürdigende Blicke oder Gesten – all das mag für sich genommen unbedeutend wirken, entfaltet aber über die Zeit eine zersetzende Wirkung.


Das Gefährliche an all diesen Formen ist nicht nur ihre Wirkung – sondern ihre Unsichtbarkeit. Sie greifen oft leise, langsam, beiläufig – im Tonfall, im Timing, im „Gutgemeinten“. Und genau das macht sie so wirksam: weil sie eben nicht sofort als Gewalt erkannt werden – weder von außen, noch von den Betroffenen selbst.

Sie wird verwechselt mit Liebe, Fürsorge oder „normaler Eifersucht“. Und genau das macht sie so gefährlich. Denn solange sie nicht benannt wird, bleibt sie wirksam – und legitimiert.

Manchmal beginnt diese Kontrolle leise – mit ständiger Erreichbarkeit, mit der Frage, wo man gerade ist, mit der „Bitte“, sich nicht mehr mit bestimmten Menschen zu treffen. Was als Fürsorge beginnt, kann sich schleichend in etwas anderes verwandeln: in Kontrolle. In eine Form von Gewalt, die keine blauen Flecken hinterlässt – aber Freiräume nimmt, Entscheidungen untergräbt und die eigene Selbstständigkeit zerstört.


Dabei zeigen Studien, wie groß das Ausmaß psychischer Gewalt ist – und wie sehr Betroffene unter der fehlenden Anerkennung leiden. Denn was nicht strafbar ist, wird oft auch gesellschaftlich nicht ernst genommen.


Zurück zu meinem Gespräch und meinen persönliche Erfahrungen.


Meine Seele hat sich damals Wege gesucht, das zu überleben. Sie hat sich geschützt, angepasst, gewehrt – und irgendwann, Jahre später, hat man mir gesagt, das sei „eine Störung“. Was ist eigentlich gestört? Meine Seele? Oder die Welt, in der Gewalt zur Normalität gehört und der Umgang damit zum Makel?


Was mich verletzt, ist nicht die Vergangenheit. Es ist das Jetzt. Wenn mir in politischen Räumen Kompetenz abgesprochen wird. Wenn meine Intelligenz in Frage gestellt wird. Wenn ich merke, dass ich nicht ich selbst sein darf – weil mein Ich angeblich krank, nicht belastbar oder nicht tragfähig sei. Und wie im Fall meiner Gesprächspartnerin: nicht einmal für ein Protokoll.


Irgendwann stellen sich Fragen, die sich nicht mehr abstellen lassen. Ist das noch Gedankenlosigkeit – oder steckt mehr dahinter? Ist da jemand, der unbewusst auf alte Bilder zurückgreift – oder jemand, der ganz bewusst abwertet? Ist es Unwissen oder kalkulierter Missbrauch von psychologischem Wissen? Und wenn solche Sätze immer wieder von denselben Personen kommen, bleibt irgendwann nur noch diese eine Frage: Was bezweckt sie damit?


Was das mit einem macht. Ich werde still. Ziehe mich zurück. Zweifle. Bin ich falsch? Habe ich übertrieben? Oder schlimmer: Habe ich wirklich nichts drauf? Noch schlimmer: Ich werde wütend. Aber nicht auf das Gegenüber, sondern auf mich. Ich funktioniere, arbeite mehr, vergesse mich. Ich mache Sport, bis ich nicht mehr kann, esse, ohne Hunger zu haben. Und ich schweige – obwohl ich reden müsste.


Ich kenne das. Und ich weiß inzwischen: Ich bin nicht allein. Doch es ist schwer, das auszusprechen. Schon der Versuch wird oft zurückgewiesen. Man solle es nicht so schwer nehmen. Die anderen meinen es doch nur gut. Sei doch froh, dass du überhaupt dabei bist.


Was sage ich darauf – auch in meiner Funktion als Genesungsbegleiterin? Was sagen wir, wenn uns jemand davon erzählt? Was tun, wenn selbst Ombudsstellen keine Antwort haben? Soll man hoffen, dass eine Awareness-Stelle glaubt, was man sagt? Dass man gehört wird, ohne sich zu rechtfertigen?


Es ist diese Ohnmacht, die lähmt. Denn was da passiert, ist Gewalt – nur ohne erkennbare Schläge. Sie kommt als Fürsorge, als Schutz daher – und ist doch Missbrauch von Macht. Wenn Menschen immer wieder subtil spüren, dass sie nichts wert sind, ist das keine Meinung mehr. Es ist Entwürdigung. Und wer so etwas tut, wird zum Täter. Auch dann, wenn er es selbst nicht so sieht.


Was fehlt, ist ein Raum, in dem solche Erfahrungen ernst genommen werden, ohne dass man sich erklären muss. Was fehlt, ist ein Schutz, der stärkt statt zu entmündigen. Was fehlt, ist ein System, das nicht nur bei sichtbarer Gewalt reagiert, sondern auch dort, wo die Wunde im Tonfall liegt, im Blick, im unausgesprochenen Zweifel.


Was hilft? Zuhören. Glauben. Nicht wegschauen. Sich selbst hinterfragen. Und sprechen – auch wenn man keine fertige Antwort hat. Denn das Schweigen hat schon genug zerstört.


Was passiert, wenn mir in einer Teamsitzung das Recht auf Mitgestaltung abgesprochen wird, weil ich angeblich nicht belastbar bin? Was bleibt dann? Schweigen? Rückzug? Die Erschöpfung, immer wieder gegen Windmühlen zu argumentieren?


Wir brauchen kein weiteres Konzeptpapier. Wir brauchen ein System, das reagiert, wenn Menschen durch psychische Zuschreibungen entwertet werden. Eines, das nicht auf Diagnosen reduziert, sondern auf Augenhöhe begegnet. Eines, das die Kraft von Krisenerfahrung erkennt – und sie nicht als Defizit behandelt.


Es darf nicht sein, dass ausgerechnet jene Räume, die Schutz versprechen – Kliniken, Teams, politische Gremien – zu Orten der Wiederholung werden. Retraumatisierung ist keine Randerscheinung. Sie ist die Folge einer Struktur, die nicht hören will. Und solange wir das nicht anerkennen, bleiben unsere Schutzkonzepte bloß Papier.


Vielleicht war es nicht das, was sie hören wollte, aber ich habe meiner Klientin geraten, rechtliche Schritte zu prüfen. Nicht, weil es einfach wäre. Nicht, weil das System gerecht ist. Sondern, weil es manchmal die einzige klare Option ist, die man überhaupt hat.


Wenn Strukturen nicht schützen, wenn Teams nicht reagieren, wenn Sprache entwertet – und niemand widerspricht – dann bleibt nur:

sichtbar machen, was geschehen ist, und Konsequenzen fordern.


Denn wer Gewalt erfährt – ob laut oder leise –

hat ein Recht darauf, dass sie als solche erkannt wird.

Trotzdem – oder gerade deshalb – braucht es auch das andere:

Etwas, das bleibt, wenn keine Stelle reagiert.

Etwas, das in einem selbst verankert ist.


Was kann sie tun – ganz konkret, für sich?

Vielleicht innehalten.

Vielleicht bewusst atmen, wenn der Körper eng wird.

Vielleicht beginnen zu spüren:

Wo endet das Außen – wo beginnt mein Raum?


Achtsamkeit ist keine Flucht. Sie ist Erinnerung an das eigene Maß.

An das, was guttut – und das, was nicht mehr geht.

Auch Abstand kann Fürsorge sein. Auch „Nein“ kann ein Akt von Würde sein.


Und manchmal reicht schon ein leiser Satz wie:

„Ich darf mich schützen. Auch wenn andere es nicht tun.“

Das ist keine Schwäche, sondern gelebte Selbstachtung.


Der Schutz der Würde ist kein Gefallen – er ist ein Menschenrecht.

Wer ihn wiederholt verletzt, mag sich selbst nicht als Täter sehen –

doch genau das ist Ableismus: Eine Form von Gewalt, die tief in unseren Strukturen sitzt – und oft nicht einmal als solche erkannt wird.


Ableismus ist ebenso keine Randerscheinung, sondern systemische Gewalt –

getarnt als Fürsorge, ausgeübt im Alltag und legitimiert durch Schweigen.


Dieser Text steht nicht für sich allein.

Er ist Teil einer größeren Auseinandersetzung mit Ableismus, psychischer Gesundheit und struktureller Gewalt.


Wer genauer verstehen möchte, wie tief Ableismus in unserer Gesellschaft verankert ist,

findet in meinem Artikel

eine analytische Auseinandersetzung.


Wer wissen will, wie strukturelle Ignoranz auch in der Psychiatrie wirken kann,

dem empfehle ich meinen Rückblick zur Tagung:


Wie sich stille Bedürfnisse in Krisen verwandeln – und was das über unsere Haltung im Umgang mit Menschen in Ausnahmesituationen verrät –

lesen Sie im zweiten Artikel


© Silvia Meck, 17. Juni 2025

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