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Deutungskämpfe – wenn Täter die Geschichte bestimmen und Opfer sich wehren müssen

  • Autorenbild: Silvia Meck
    Silvia Meck
  • 27. Juni
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 3. Juli

Über Opferumkehr, emotionale Gewalt und den Mut, sich zu wehren

Ein einzelner Baum steht in einer grünen Wiese unter blauem Himmel. Die Szene wirkt ruhig und weit.
Landau - Land

„Du übertreibst.“

„Vielleicht hast du ihn/sie einfach falsch verstanden.“

„So schlimm kann es doch nicht gewesen sein.“


Wer solche Sätze hört, steht oft nicht nur vor einem Konflikt , sondern mit dem Rücken zur Wand. Denn was hier passiert, ist mehr als Missverständnis: Es ist ein Angriff auf die eigene Realität. Opferumkehr bezeichnet genau das: Die Umkehrung von Verantwortung, bei der nicht mehr die Person im Mittelpunkt steht, die Gewalt oder Manipulation erfahren hat – sondern die, die sich dagegen wehrt. Plötzlich wird das Opfer zur Verdächtigen, zur Belastung, zum Problem.


Ob in persönlichen Beziehungen, in beruflichen Kontexten, im Aktivismus oder vor Gericht – Opferumkehr ist ein gesellschaftliches Muster. Sie trifft Menschen besonders hart, die sich ohnehin schon im Randbereich gesellschaftlicher Macht bewegen: Frauen, queere Menschen, chronisch Kranke, Menschen mit Behinderung, People of Color, traumatisierte Personen.

Die Frage ist nicht nur: Was ist mir passiert? Sondern auch: Wie kann ich meine Geschichte wieder in die eigene Hand nehmen – ohne sie rechtfertigen zu müssen?


Die leisen Waffen: Ghosting, Gaslighting und andere Formen von psychischer Gewalt und die strategische Schuldumkehr


Nicht jede Gewalt ist sichtbar. Manche beginnt mit einem Schweigen,

oder mit einem Satz wie: „Ich weiß gar nicht, was du hast.“ Die Mechanismen dieser psychischen Gewalt – die Rolle von Polizei und Justiz in der Reproduktion von Täter-Narrativen* und um Wegen, wie Betroffene sich wehren können, ohne sich selbst zu verlieren. Wenn Worte verdreht, Erinnerungen infrage gestellt oder Menschen systematisch ignoriert werden, all das ist eine besonders tückische Form von Gewalt, weil sie keine sichtbaren Spuren hinterläst aber tiefe innere Verunsicherung erzeugt.


Bei Ghosting, plötzlicher Kontaktabbruch ohne Erklärung, ein Mensch verschwindet. Nicht, weil er physisch weg ist – sondern weil er sich emotional und kommunikativ entzieht, genau in dem Moment, wo Klarheit, Verantwortung oder Aufarbeitung notwendig wären. Ghosting ist nicht einfach „Funkstille“. Es ist eine Machtdemonstration durch Schweigen. Die betroffene Person bleibt mit offenen Fragen zurück: „Habe ich etwas falsch gemacht?“ „War ich zu viel?“ „Warum bekomme ich keine Antwort mehr?“ Der Schmerz liegt nicht nur im Verlust – sondern im Gefühl, nicht mehr zu existieren.


Gaslighting funktioniert, indem die Wahrnehmung des Gegenübers gezielt manipuliert wird – etwa durch Sätze wie: „Das hast du dir eingebildet.“ „So habe ich das nie gesagt.“ „Du bist doch nur überempfindlich.“ Es zielt darauf ab, Kontrolle zu behalten, indem das Gegenüber aus der eigenen Realität gedrängt wird. Betroffene beginnen irgendwann, sich selbst zu misstrauen: „War das wirklich so?“ „Bin ich schuld an dem, was passiert ist?“ „Reagiere ich über?“ Genau das macht Gaslighting so gefährlich: Es isoliert, ohne es offen zu benennen.


Strategische Schuldumkehr

Oft treten Ghosting und Gaslighting nicht isoliert auf – sondern in Kombination mit einer dritten Form: der gezielten Schuldumkehr. Dabei wird das Verhalten des Opfers als eigentliche Ursache des Konflikts dargestellt. Nicht die Tat steht im Zentrum – sondern die Reaktion darauf. Typisch sind Sätze wie: „Du hättest ja auch einfach nichts sagen müssen.." „Du übertreibst wieder mal.“ „Mit dir kann man einfach nicht normal reden.“ So wird der Konflikt umgedreht – und das Opfer wird zum „Problemverursacher“.


Psychologische Gewalt zielt nicht auf den Körper – sondern auf das Selbstbild.

Und oft ist sie so subtil, dass sie erst spät als Gewalt erkannt wird.


Institutionalisierte Opferumkehr: Wenn Schutz zum Risiko wird


Wer verletzt wurde, sucht oft Schutz bei der Polizei. So sollte es sein – denn die Polizei ist Teil der Gewaltenteilung und verpflichtet, neutral zu handeln, zuzuhören, zu dokumentieren – nicht zu urteilen. Doch viele erleben das Gegenteil. Statt Schutz erfahren sie: Verhöre statt Gespräch, Misstrauen statt Glauben, Abwertung statt Ernstnahme. Fragen wie: „Warum kommen Sie erst jetzt? „Warum sind Sie überhaupt geblieben?“ „Wollen Sie jetzt das Leben der anderen Person ruinieren?“

transportieren keine Neutralität, sondern Schuldzuweisung.


Andere erleben, dass nicht sie selbst, sondern der Täter zuerst Anzeige erstattet – strategisch, kalkuliert. So wird die betroffene Person nicht als Opfer wahrgenommen, sondern steht plötzlich selbst unter Verdacht. Diese Täterstrategie ist gefährlich – und sie funktioniert, weil Polizei und Justiz oft formaler statt traumasensibel agieren. Wer zuerst spricht, wer ruhig oder glaubhaft wirkt, wird oft bevorzugt – während das tatsächliche Opfer emotional, verzweifelt oder später erscheint und weniger glaubwürdig wirkt. Natürlich gibt es Ausnahmen – Beamt:innen, die zuhören und differenzieren. Aber: Das System schützt sie nicht und es schützt auch nicht die, welche sich wehren.


Es reicht nicht, „neutral“ zu sein. Es braucht Haltung und ein Verständnis für psychologische Gewalt.


Es braucht mehr als Empathie.

Es braucht mehr als wohlmeinendes Zuhören.

Es braucht eine Haltung, die erkennt, was nicht sichtbar ist – und benennt, was andere lieber übergehen.

Eine Haltung, die nicht auf Ausgleich zielt, wenn Macht ungleich verteilt ist.

Die nicht neutral bleibt, wenn Menschen systematisch entwertet, isoliert oder sprachlich entmachtet werden.


Neutralität schützt nie die Verletzlichen. Sie schützt die, die lauter sind, die geübter sind und die sich sicher im Raum sicher fühlen. Oder es schützt die, welche längst gelernt haben, wie man sich Geschichten zu eigen macht – auf Kosten anderer.

Eine solche Haltung fragt nicht: „Warum hat sie sich nicht früher gewehrt?“

Sondern: „Warum musste sie sich überhaupt wehren – und warum allein?“

Sie fragt nicht, was man hätte besser, anders, ruhiger sagen können.

Sondern: Was passiert ist. Was zerstört wurde. Was das mit einem Menschen macht. Diese Haltung ist unbequem sie will nicht gefallen. Sie verwechselt Zuhören nicht mit Abwarten und Abwarten nicht mit Fairness. Wer sich nicht positioniert, stellt sich oft doch – nur eben auf die Seite der Macht und damit des Täters.


Wir brauchen Wissen über psychische Gewalt – und über Täterstrategien, die wirken, solange sie niemand ausspricht. Wir brauchen ein Bewusstsein für institutionelle Abläufe, in denen oft Narrative geschützt werden – statt Menschen und wir brauchen ein Wissen, das nicht nur verstanden wird, sondern das uns verändert; eines das spürbar wird in der Haltung, nicht nur im Kopf. Ja, dazu braucht es Mut. Nicht den Mut, laut zu werden, sondern den Mut, hinzuschauen, hinzustehen und zu bleiben – auch wenn es unbequem wird.


Wie wehrt man sich? Strategien gegen emotionale Gewalt und Täter-Narrative*


Zunächst einmal: nicht alles, was hilft, fühlt sich sofort wie Widerstand an. Manchmal beginnt es leise, mit einem Gedanken, einem Satz, den man sich selbst zuflüstert, mitten im Chaos: „Ich glaube mir.“ Das mag klein wirken, fast zerbrechlich – doch es ist ein Bruch mit dem, was Gewalt versucht hat zu zerstören, das Vertrauen in sich selbst. Sich zu wehren heißt nicht immer laut werden oder kämpfen, sondern bedeutet oft, die eigene Wahrnehmung zurückzuholen, sie nicht länger auszuliefern an jene, die sie verdrehen, schmälern oder zum Verstummen bringen wollen.

Sich zu wehren kann heißen, nicht mehr zu erklären, nicht mehr zu diskutieren, nicht mehr die eigene Geschichte gegen Zweifel zu verteidigen. Es kann bedeuten, sich zu entziehen – nicht aus Schwäche, sondern als Entscheidung. Es bedeutet, Grenzen zu setzen, auch wenn niemand sie versteht, die eigene Sprache zu finden, auch wenn sie nicht in ein Protokoll passt, und sich Menschen zu suchen, die nicht fragen, warum es einem so geht, sondern mittragen, dass es so ist.


Strategien gegen emotionale Gewalt sind nicht einheitlich, nicht planbar, oft nicht sichtbar. Sie sind zart, tastend, fragmentarisch und doch bergen sie etwas Unerschütterliches: den Willen, sich nicht länger vereinnahmen zu lassen von einem Narrativ, das einem nicht gehört. Wer beginnt, sich selbst wieder zuzuhören, wer aufhört, sich für die eigene Verletzlichkeit zu schämen, der beginnt, sich zu entziehen – nicht der Welt, sondern der Gewalt in ihr. Täter-Narrative* leben davon, dass sie lauter, klarer, plausibler erscheinen. Doch sie halten nur so lange, wie ihnen kein anderes Narrativ entgegengesetzt wird. Es braucht keine Bühne, keinen Beweis, kein fertiges Manuskript. Es braucht nur die innere Gewissheit, ich bin nicht, was man mir zuschreibt.


Was ich mir wünsche


Ich wünsche mir, dass wir aufhören, Verletzungen erst dann ernst zu nehmen, wenn sie laut, dramatisch oder sichtbar geworden sind und as wir anerkennen, wie leise Gewalt sein kann – wie sie sich in Sprache, in Schweigen, in Strategien einschreibt, die nicht nach außen schreien, aber innerlich etwas zerstören. Ich wünsche mir, dass wir nicht länger den Tonfall werten, sondern den Inhalt hören. Dass wir aufhören, Menschen infrage zu stellen, nur weil sie nicht ruhig, sortiert, oder nüchtern erzählen können, was ihnen angetan wurde. Dass wir die Form nicht über das Geschehene stellen. Ich wünsche mir, dass Schutz nicht länger bedeutet, Beweise liefern zu müssen für das, was nicht dokumentiert werden kann. Dass Zweifel nicht automatisch Verdacht bedeutet – sondern Offenheit für das, was komplex, brüchig, vielschichtig ist. Ich wünsche mir, dass Menschen, die verletzt wurden, nicht zuerst erklären müssen, warum sie geblieben sind, sondern dass jemand fragt, wie es ihnen jetzt geht. Das nicht mehr gezählt wird, wie lange etwas her ist, sondern gespürt wird, wie nah es noch immer ist, und ich wünsche mir, dass wir beginnen, Geschichten nicht nur zu glauben, sondern zu schützen – nicht, weil sie perfekt erzählt sind, sondern weil sie einen wahren Kern tragen: den Versuch, nicht zu verschwinden.


Diese Wünsche sind mehr als Hoffnungen – sie sind eine Einladung, gemeinsam das Schweigen zu durchbrechen und Raum zu schaffen, in dem Betroffene ihre Erzählung zurückgewinnen können. Denn nur wer seine Geschichte behält, behält auch ein Stück seiner Würde.


Widerstand beginnt im Inneren


Sich zu wehren beginnt oft im Inneren, mit dem Mut, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen, auch wenn andere sie in Frage stellen. Was ich fühle, ist real, auch wenn es nicht laut war, nicht sichtbar oder juristisch greifbar. Es kann helfen, die eigenen Erfahrungen aufzuschreiben, nicht für andere, sondern um sich selbst Klarheit zu schaffen und die eigene Geschichte nicht aus den Händen zu geben. Unterstützung zu suchen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Ausdruck von Selbstachtung, ob durch vertraute Menschen, Beratung oder Gemeinschaft mit Gleichbetroffenen. Grenzen zu setzen ist ein Akt der Würde, ein inneres Nein reicht, auch wenn es andere nicht verstehen. Und manchmal ist es wichtig, die eigene Geschichte zu erzählen, leise und vorsichtig, nicht um zu klagen, sondern um nicht zu verstummen, denn es braucht keinen großen Auftritt, sondern einen Ort, an dem ich sagen darf: Das war nicht in Ordnung, und ich bin nicht schuld.


Wer tiefer einsteigen möchte, findet ergänzende Gedanken in den beiden bereits erschienenen Texten:


In „Ableismus, den keiner sehen will“ geht es um strukturelle Abwertung, übersehenes Leid und die Frage, warum bestimmte Erfahrungen in unserer Gesellschaft kaum Sprache finden.


Der Artikel „Ich höre zu und weiß nicht, was ich sagen soll“ beleuchtet psychische Gewalt, Coercive Control und das gesellschaftliche Schweigen, das sie oft begleitet.


„Mein Name gehört mir“ ist eine sehr persönliche Antwort auf Fremdzuschreibungen, eine Spurensuche nach Identität, Würde und dem Recht, sich selbst zu benennen.


© Silvia Meck, 27. Juni 2025


*-Narrative

Narrative sind nicht nur Geschichten – sie sind Deutungsmuster, die beeinflussen, wessen Perspektive zählt, wer gehört wird und wie Erfahrungen gedeutet werden.

In der psychosozialen Arbeit, im Justizsystem oder im gesellschaftlichen Diskurs wirken Narrative oft unsichtbar – und doch tief: Sie entscheiden mit darüber, ob jemand als glaubwürdig gilt, als krank, als gefährlich oder als Opfer. Ein Narrativ kann stützen – oder entwürdigen. Recovery bedeutet auch, eigene Narrative zurückzugewinnen, sich dem Deutungsmonopol anderer zu entziehen – und der eigenen Geschichte wieder Stimme zu geben.


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