Bedürfnisse ohne Stimme - und die Kunst, sie sichtbar zu machen
- Silvia Meck
- 18. Juni
- 11 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Juli
Wie stille Bedürfnisse pathologisiert werden – und was das über unsere Haltung im Umgang mit Krisen verrät

Dieser Artikel knüpft an den Text „Ich höre zu und weiß
nicht, was ich sagen soll“ an. Während dort die persönlichen Erfahrungen und gesellschaftlichen Dynamiken psychischer Gewalt im Mittelpunkt stehen, richtet sich der Blick hier stärker auf Bedürfnisse, Systeme – und die Frage, wie echte Brücken entstehen können.
Manchmal ist das, was als „Krise“ etikettiert wird, in Wirklichkeit etwas anderes – ein Ausdruck von Bedürfnissen, die niemand erkannt hat. Nicht von außen, aber oft auch nicht von der betroffenen Person selbst. Denn wie soll jemand sagen, was gebraucht wird, wenn noch nicht einmal das Gefühl greifbar ist? Wenn Worte fehlen, weil die innere Ordnung zerfällt, weil Überforderung, Angst oder Schmerz sich nicht in Sprache übersetzen lassen – oder weil man früh gelernt hat, dass man ohnehin nicht gehört wird. Was bleibt, ist Verhalten: Rückzug, Reizbarkeit, Weinen, Schweigen – allesamt keine Diagnosen, sondern Ausdrucksformen, die verstanden werden wollen.
Doch statt zuzuhören, wird oft vorschnell gewertet: „piensig“ (weinerlich), „nicht krisenfähig“, „zeigt keine Motivation“, „sabotiert sich selbst“. Was dabei übersehen wird:
Ein Bedürfnis, das nicht erkannt und nicht mit der betroffenen Person gemeinsam in tragbare Strategien übersetzt wird, kann sich zuspitzen – nicht weil die Person „nicht will“, sondern weil sie nicht weiß, wie. Wie sollen Skills erlernt werden, wenn nicht einmal klar ist, wofür? Was dann als psychische Krise erscheint, ist in Wahrheit oft die logische Folge eines nicht begleiteten Prozesses. Und in schlimmen Fällen kann es noch weiter eskalieren: Wenn dieser Zustand in einer geschlossenen Station endet, ohne echte Kommunikation, ohne Deeskalation, ohne Brücken – dann wird aus einem nicht erkannten Bedürfnis eine Retraumatisierung. Nicht weil jemand krank ist, sondern weil das die Ordnungslogik die unser gesellschaftliches und institutionelles Handeln prägt, nicht erkennt, was fehlt.
Jede Krise ist Ausdruck eines Bedürfnisses. Vielleicht nicht immer sofort erkennbar – und nicht immer bewusst –, aber immer ein Zeichen dafür, dass etwas fehlt, etwas überfordert oder nicht mehr trägt. Doch genau hier beginnt das Problem: Wir leben in einer Ordnung, in der Bedürfnisse nicht einfach Raum haben, sondern begründet, normiert und passend sein müssen. Wer seine Bedürfnisse nicht klar formulieren kann – oder nicht in der Sprache, die erwartet wird – gilt schnell als „überfordert“, „auffällig“ oder „instabil“. Was dann als psychische Krise etikettiert wird, ist oft nicht mehr als das Echo eines ungehörten Rufes: nicht laut, aber dringend. Nicht pathologisch, sondern menschlich.
Wenn Resonanz ausbleibt, bleibt oft nur eines: Aushalten.
Und wer aushalten muss, was sich nicht verändern lässt, greift irgendwann zurück auf das, was vertraut ist – selbst wenn es weh tut. Verhaltensmuster, die nicht „stören“, sondern einmal geschützt haben: Rückzug, Aggression, Selbstverletzung. Weinen, Laut sein, Still werden, Aufmerksamkeit suchen, egal wie.
Wenn wir über psychische Krisen sprechen, dann sprechen wir fast immer auch über Institutionen: Kliniken, psychosoziale Dienste, Eingliederungshilfe, Beratung, Ämter. Orte, an denen Menschen eigentlich Unterstützung erfahren sollten – und stattdessen oft erleben, dass ihre Bedürfnisse nicht gesehen oder falsch gelesen werden. Besonders deutlich wird das in der Psychiatrie: Dort, wo Krisen begleitet werden sollen, wird Verhalten oft vorschnell zur Symptomatik erklärt – und aus einer existenziellen Not wird eine Diagnose. Genau hier beginnt das Problem: Nicht weil Menschen krank sind, sondern weil das System nicht hört, was gesagt werden will.
Viele dieser Reaktionen kennen wir nicht erst aus dem Erwachsenenleben. Sie sind nicht Ausdruck einer Störung, sondern menschlich. Sie sind Strategien, die oft schon früh gelernt wurden – aus der Erfahrung heraus, dass Bedürfnisse nicht gesehen, nicht verstanden oder nicht erfüllt wurden. Kinder machen das so und Erwachsene auch – wenn keine anderen Wege verfügbar sind.
Und genau das wird dann oft zum Vorwurf gemacht:
„Unreif“, „widerspenstig“, „selbstschädigend“ – statt zu sehen: Das ist kein Trotz, sondern ein Überlebensmuster.
Selbst innerhalb der Institutionen – Kliniken, Ämter, Hilfestrukturen – geschieht das nicht selten: Menschen sehen einander. Manchmal ganz klar. Manchmal erkennend, was Worte noch nicht sagen können und trotzdem bleibt der nächste Schritt aus. Nicht, weil das Gegenüber kein Herz hätte, sondern, weil auch dort Menschen arbeiten – Menschen mit Grenzen, mit Zeitmangel, mit Verantwortung, mit innerem Schutz. Die Institution ist kein kalter Apparat. Sie ist widersprüchlich. In ihr arbeiten Menschen, die sehen, fühlen, spüren – und doch oft keine Handlungsmacht haben.
Das ist die Ambivalenz, die so viele erlebt haben:
Das Gefühl, gesehen zu werden – aber nicht gehalten.
Gehört – aber nicht verstanden.
Erkannt – aber trotzdem entgleitend.
Und genau an diesem Punkt kann etwas kippen. Wenn all das, was versucht wurde – fühlen, andeuten, zeigen, hoffen – nicht aufgefangen wird, dann bleibt nur der Rückfall auf alte Muster. Und irgendwann eskaliert das, was eigentlich eine Bitte um Verbindung war.
Vielleicht ist das der eigentliche Schmerz:
Dass etwas erkannt wird – und trotzdem keine Brücke entsteht.
Weil niemand weiß, wie. Weil keine Zeit ist. Weil kein Vertrauen da ist, dass das Gegenüber mitgehen kann, ohne sofort zu kategorisieren.
Dabei braucht es nicht viel: keine Lösung, keine Therapie, kein Plan.
Sondern: Resonanz. Ein echtes Gegenüber. Einen Moment der Verbindung, der sagt: Ich sehe dich.
Genau das ist der Kern von Genesungsbegleitung:
Begleiten heißt nicht „wissen, was gut ist“, sondern mit dem Menschen gemeinsam herausfinden, was möglich wird.
Personenzentriertes Denken heißt nicht: „Ich weiß, was für dich gut ist.“
Es heißt: „Ich bin bereit, mit dir herauszufinden, was für dich stimmig ist – auch wenn ich es selbst noch nicht verstehe.“ Doch genau das wird oft verwechselt, auch von Fachkräften. Sie meinen es gut, greifen auf bewährte Konzepte zurück, empfehlen, was schon „vielen geholfen hat“. Doch Hilfe ist keine Schablone. Und ein Mensch ist kein Projekt.
Echtes personenzentriertes Arbeiten verlangt etwas anderes:
Haltung statt Technik, Beziehung statt Methode, Zuhören, auch wenn es anstrengend wird und aushalten, dass man nicht sofort weiß, was hilft.
Das ist unbequem. Es macht verletzlich. Und manchmal wirkt es nach außen, als geschehe nichts – obwohl im Inneren bereits eine Brücke entsteht.
Denn eine Brücke beginnt oft mit einem stillen Satz: „Du musst mir nichts erklären. Ich bleibe einfach hier.“
Es braucht nicht immer eine Antwort – sondern ein echtes Gegenüber.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Seelsorger, der nach meiner Erzählung erst einmal schwieg. Nicht aus Hilflosigkeit – sondern aus Betroffenheit. Sein Gesicht sprach, bevor Worte kamen. Und dann sagte er nur einen Satz:
„Wenn mir das passiert wäre – ich weiß nicht, wie ich damit hätte leben können.“
Das ist es was fühlen lässt ich werde gesehen – nicht analysiert, nicht diagnostiziert, sondern erkannt. Nicht, weil er alles wusste, sondern weil er wagte, für einen Moment auf meine Seite zu treten. Perspektivwechsel kann man nicht lehren, man muss ihn wollen und Empathie ist kein Skill, den man lernt – sondern eine Bereitschaft, die eigene Perspektive loszulassen.
Vielleicht ist das der Schlüssel: Nicht überlegen, wie jemand „funktionieren“ könnte, sondern verstehen wollen, warum etwas gerade nicht geht.
Die Coronazeit hat einige Menschen zu diesem Perspektivwechsel gezwungen. Die Maßnahmen die plötzlich alle erdulden mussten, die Art wie über eine bestimmt wurde und die Konsequenzen wenn man dies nicht tat. All dies bekam die gesamte Gesellschaft zu spüren und ihre Bedürfnisse wurden vielleicht gehört, aber nicht befriedet. Genau diese Erfahrung ist für viele psychiatrieerfahrene Menschen Alltag. Ein Mensch der sich in der Coronazeit über Gegebenheiten aufgregte, echauffierte, konnte das dennoch ohne Konsequenzen. Patienten in der Psychiatrie wären mit diesem Verhalten vermutlich länger geblieben, hätten mehr Medikamente bekommen, und wenn es dunkel gelaufen wäre – vielleicht noch eine Zwangsmaßnahme erfahren. Ein schweres Trauma, das nie wieder ganz gutzumachen ist.
Was in einem gesellschaftlichen Kontext als unzumutbar gilt, wird in einem anderen zur therapeutischen Normalität erklärt.
Brücken lassen sich nicht bauen, wenn man einander nur gegenübersteht – oder wenn die Erwartung besteht, dass sich nur einer bewegt: Das Gegenüber braucht
echte Verbindung, es braucht Gegenseitigkeit. Beide Seiten müssen bereit sein, einen Schritt zu tun – auch wenn er ungewohnt, unsicher oder unbequem ist. Das bedeutet das eigene Wissen infrage stellen. Nicht führen, sondern sich auch einmal führen lassen. Kontrolle abgeben, ohne sich zu verlieren.
Für viele ist das schwer – nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil sie gelernt haben, dass gerade in Systemen, die auf Sicherheit, Struktur und Funktionalität ausgelegt sind, genau das nicht vorgesehen ist. Sind wir ehrlich, das ist jedes System, auch das persönliche. Nur dort, wo sich beide Seiten aufeinander zubewegen, kann ein Raum entstehen, in dem Bedürfnisse sichtbar werden – und Menschen wieder als Menschen begegnen.
Leider bleiben viele aber auf ihrer Seite des Flusses stehen – sehenden Auges.
Der eine, weil er nicht weiß, wie er übersetzen soll.
Der andere, weil er gelernt hat, dass niemand wirklich zuhört –
und zwischen ihnen das, was hätte Verbindung sein können.
Nicht die Krise selbst – sondern dass sie hätte vermieden werden können, wenn es früher eine Brücke gegeben hätte – ist so schmerzhaft. Ein Bedürfnis wird nicht plötzlich zur Krise, es wird dazu gemacht – durch Nichtbeachtung, Missverstehen, Überforderung. Wir müssen uns daher fragen: Wann wird ein Bedürfnis zur Krise – und warum schauen wir nicht hin?
Das Problem ist nicht das Verhalten. Das Problem ist die Brille, durch die wir es lesen. Wir sehen Rückzug – und nennen es Widerstand. Wir sehen Tränen – und nennen es Überreaktion. Wir sehen Schweigen – und nennen es Verweigerung.
Dabei sprechen all diese Ausdrucksformen eine Sprache – nur nicht die, welche im jeweilgen System vorgesehen ist. Der eine fragt: „Was stimmt nicht mit dir?" aber was gebraucht wird, ist: „Was ist los mit dir? Und das nicht nur in Worten,sondern mit dem gesamten Sein, mit Sprache, Mimik, Gestik und mit der richtigen Haltung.
Haltung ist spürbar
Gerade Menschen, die Krisen durchlebt haben – tief, existenziell, vielleicht psychotisch oder traumatisch – entwickeln oft eine außergewöhnliche Feinfühligkeit für das, was zwischen den Zeilen geschieht.
Sie spüren, ob eine Haltung echt ist. Ob jemand wirklich da ist – oder nur anwesend spielt. Ob da Resonanz geschieht – oder professionell distanzierte Routine. Ein süffisantes Lächeln, ein falsch gesetzter Ton, eine Geste zu viel – all das wird wahrgenommen und gewertet. Nicht aus Misstrauen – sondern aus Erfahrung. Wenn die Haltung nicht stimmt, spürt es das Gegenüber – unausweichlich.
Wenn das geschieht passiert etwas, das nicht im Lehrbuch steht:
Die Person passt sich an, spielt mit, sagt, was gehört werden will.
Nicht, weil sie lügt – sondern weil sie überleben will, weil das persönliche System auf Überlebensmodus schaltet. Sie wird leise oder angepasst, vermeidet Nähe, geht Umwegen aus dem Weg und doch bleibt das Eigentliche auf der Strecke:
die eigene Entwicklung, das eigene Tempo, der eigene Weg.
So entstehen keine Recovery-Prozesse.
So entsteht Überanpassung, manchmal ein scheinbarer Erfolg – aber keine wirkliche Veränderung.
Anpassung ist keine Lösung – nur eine Überlebensstrategie.
Eine, die kurzfristig schützt – aber langfristig oft genau dorthin führt, wovor sie bewahren sollte – in die nächste Krise. Denn wer sich ständig anpasst, verliert irgendwann sich selbst, weil eine solche Anpassung nie ganz gelingt – weil das eigentliche Bedürfnis nicht verschwindet – es ploppt immer wieder auf. Nicht als Satz, sondern als Symptom.
Was nicht gesehen, nicht ausgesprochen, nicht übersetzt werden kann, bleibt im Innern stecken und irgendwann wird daraus nicht mehr nur ein Bedürfnis – sondern eine Zuschreibung, eine Störung.
Aus Unsicherheit wird ein „Fall“.
Und aus dem Menschen ein Risiko.
Nicht weil er „nicht funktioniert“ – sondern weil seine Not nicht übersetzbar ist in das, was das gegenüberliegende System hören will.
Weil es kein Formular gibt für: Ich fühle mich verloren.
Keine Maßnahme für: Ich brauche einen sicheren Raum, bevor ich Worte finde.
Ein Blick von innen – und der andere von außen
Wie psychiatrische Versorgung gedacht und geplant wird, lässt sich in einem aktuellen Interview mit Paul Bomke, Geschäftsführer des Pfalzklinikums, gut nachvollziehen. Er spricht über moderne Versorgungsansätze, über wohnortnahe Hilfen und einen Wandel in der Psychiatrie – strukturiert, visionär, mit spürbarem Engagement.
Und doch zeigt sich genau hier die Lücke, die mein Artikel sichtbar machen will:
Die gelebte Erfahrung – das, was am Rand der Systeme geschieht – findet in solchen Formaten naturgemäß kaum Platz. Zwischen wohlüberlegten Behandlungsplänen und dem tatsächlichen Erleben von Menschen in Krisen liegt oft ein Graben. Nicht, weil jemand absichtlich wegsieht – sondern weil manches schwer erfassbar bleibt, solange man sich innerhalb der Systemlogik bewegt.
Denn was nicht dokumentiert wird, was sich nicht messen, standardisieren oder planen lässt, bleibt schnell unsichtbar: Beziehung. Vertrauen. Resonanz.
Viele dieser Perspektiven sprechen über Menschen – aber selten mit ihnen.
Sie beschreiben Abläufe, aber kein inneres Erleben. Sie benennen Zustände, aber keine Geschichten.
Was fehlt, ist das, was im Alltag so entscheidend wäre: die Erfahrung, nicht nur entlassen zu werden, sondern aufgenommen. Nicht nur „weiterbehandelt“, sondern wirklich gehört.
Denn der Moment der Entlassung ist für viele kein logistischer Schritt, sondern ein Bruch.
Wer entscheidet, dass jemand „stabil genug“ ist?
Woran wird gemessen, dass genug „Skills“ erlernt wurden?
Und wer spricht über die Angst, in einen Alltag zurückzukehren, der nie tragfähig war?
Die hier formulierten Sichtweisen ergänzen daher die Perspektive des Interviews um das, was oft zwischen den Zeilen geschieht – um die Innenansicht: Dort, wo Haltung zählt, nicht Dokumentation. Wo nicht gefragt wird: „Wie ist der Behandlungsstand?“, sondern: „Was braucht es, um Halt zu erleben?“ Vielleicht kann mein Artikel auf diese Weise eine Brücke schlagen – zwischen Planung und Präsenz. (→ Interview auf gesundheitsmarkt.de)
Mein Artikel versteht sich daher nicht als Gegendarstellung, sondern als Ergänzung. Vielleicht auch als Einladung – zu einem echten Dialog. Denn Veränderung beginnt genau dort, wo Menschen im System bereit sind, auch das zu sehen, was außerhalb ihrer Steuerung liegt.
Und jetzt?
So oder ähnlich lesen sich viele offizielle Beschreibungen zur sogenannten Enthospitalisierung:
klinisch geplant, sorgfältig abgestimmt, multiprofessionell begleitet. Es ist die Sprache von Behandlungszielen, Stabilisierung, Rückfallgefahr und Weiterbehandlung. Alles wirkt nachvollziehbar, gut gemeint, rational fundiert – und genau darin liegt auch eine große Stärke: strukturelle Klarheit in einem herausfordernden Feld. In dieser Sprache fehlt aber oft etwas Entscheidendes: das gelebte Erleben.
Der Begriff der „Risikobeurteilung“ sagt viel über die Haltung dahinter. Denn hier steht nicht im Fokus, was ein Mensch braucht, um sich sicher zu fühlen – sondern ob er als Risiko für andere gilt. Die Verantwortung wird damit nicht geteilt, sondern verschoben. Der Mensch wird zum „Fall“, seine Unsicherheit zur „Symptomatik“, sein Rückzug zur „Verweigerung“. Das Ziel: Integration in eine Normalität, die für viele nie tragbar war. Dabei wäre genau hier der Wendepunkt möglich. Wenn nicht nur gefragt würde, wie lange jemand „bleiben darf“, sondern was nötig ist, damit er nicht wieder fällt. Wenn nicht nur geplant wird, was als Nächstes geschieht, sondern was innerlich gerade möglich ist. Wenn Enthospitalisierung nicht bedeutet: „Jetzt bist du wieder draußen.“ – sondern: „Jetzt fangen wir an, gemeinsam zu verstehen, was dich trägt.“ Nicht: „Du bist stabil.“ – sondern: „Du bist nicht allein.“
Nicht: „Der Platz wird gebraucht.“ – sondern: „Dein Platz im Leben ist wichtig.“
Ansätze dazu gibt es – etwa im Pfalzklinikum, das sich in vielen Punkten um einen anderen Blick auf Versorgung bemüht. Doch zwischen sorgfältig geplanten Konzepten und der erlebten Realität vieler Betroffener klafft oft ein Graben.
Es ist nicht die Absicht, die fehlt – sondern manchmal das Wissen um das, was nicht in Akten steht und um das, was zwischen den Terminen verloren geht: Beziehung, Vertrauen, Resonanz. Selbst dort wo ein anderes Denken gewollt ist, bleibt eine Frage offen. Wird diese Haltung wirklich überall geteilt – oder bleibt sie ein Anspruch, der zu oft am Rand des Systems verloren geht?
Ein Leitbild bleibt Theorie, wenn es nicht von allen getragen wird – gerade dort, wo Menschen Halt suchen.
Aus meiner Sicht beginnt der eigentliche Weg oft erst nach der Entlassung – und er lässt sich nicht in Checklisten und Zeitfenstern abbilden. Er braucht Halt statt Kontrolle, Beziehung statt Planung, und das ehrliche Eingeständnis: Wir wissen nicht immer, was hilft. Aber wir gehen mit, ohne Bewertung, ohne Bedingung, ohne Plan B – nur mit der Entscheidung, den Menschen nicht allein zu lassen.
Enthospitalisierung ist mehr als ein Entlassbrief. Es ist ein Versprechen, das oft nicht eingelöst wird – weil dahinter ein System steht, das nicht auf Menschen, sondern auf Funktionen ausgerichtet ist.
Was bedeutet „stabil“, wenn keine Brücken gebaut wurden? Was heißt „ambulant tragbar“, wenn Beziehungen fehlen, wenn Sprache fehlt, wenn der Mensch nicht wieder Teil von etwas wird? Ich glaube nicht, dass man einen Menschen einfach „entlassen“ kann – schon gar nicht aus einem System, das ihm zuvor über Jahre oder Jahrzehnte mehr Verletzungen als Halt zugefügt hat.
Was ist mit denen, die 30 Jahre in der Psychiatrie leben? Was mit denen, die unter Zwang isoliert, ruhiggestellt, gebrochen wurden? Was mit denen, für die jede Entlassung nur ein kurzes Aufatmen zwischen zwei Aufnahmen war? Das Drehtürsystem ist kein individuelles Versagen – es ist strukturelle Gewalt. Und solange wir uns weigern, genau hinzusehen, wird es immer weiterlaufen.
Was wir brauchen, ist kein besseres Entlassmanagement – sondern ein anderes Denken. Eins, das sich nicht an der Kostendeckung orientiert, nicht an Belegungszahlen oder an Akteneinträgen. Sondern an Menschen und an dem, was sie wirklich brauchen: Resonanz, Beziehung, Räume, die nicht sanktionieren, sondern verstehen.
Wie soll jemand stabil bleiben, der zwischen einem institutionelen System in ein gesellschaftliche System zurückkehrt, die nie wirklich für ihn gebaut waren?
Wir müssen endlich beginnen umzudenken: Nicht in Kategorien von Versorgung, sondern in Kategorien von Beziehung, Vertrauen und echter Teilhabe.
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Wer verstehen möchte, wie subtil und zerstörerisch psychische Gewalt wirken kann, findet dies im ersten Teil der Reihe
eine persönliche und gesellschaftskritische Annäherung an emotionale Gewalt, Idyllismus und strukturelles Schweigen.
© Silvia Meck, 18. Juni 2025
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